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Beschwerde-Nr. 8978/80

EGMR, Urteil vom 26.03.1985, Beschwerde-Nr. 8978/80, X und Y gegen die Niederlande

1. Sachverhalt

Y lebte in den Niederlanden in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung. Im Jahr 1977, am Tag nach ihrem 16. Geburtstag, wurde sie dort von B., einem Verwandten der Einrichtungsleitung, vergewaltigt.

2. Verlauf des Verfahrens in den Niederlanden

X, der Vater von Y, zeigte B. bei der Polizei an und beantragte die Aufnahme von Ermittlungen. Y sei aufgrund ihrer fehlenden geistigen Reife nicht in der Lage, selbst das Verfahren zu initiieren. Der Polizeibeamte erlaubte, dass der Vater die Anzeige anstelle seiner Tochter unterzeichnete. Der Beamte teilte dessen Auffassung in Bezug auf die geistige Reife von Y und sah seine Beobachtung durch die Aussage des Schulleiters und eines Lehrers von Y bestätigt.
Die Staatsanwaltschaft lehnte die Aufnahme von Ermittlungen ab. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Es hielt das Vorliegen der Voraussetzungen des Vergewaltigungstatbestandes für nicht beweisbar. Hinsichtlich des Straftatbestandes des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen bestand dagegen ein Verfolgungshindernis, da nach (damaligem) niederländischem Recht der Antrag beziehungsweise die Anzeige des Opfers selbst vorliegen musste. Gesetzliche Vertreterinnen oder Vertreter waren nur bei Minderjährigen unter 16 Jahren oder bei Volljährigen unter Vormundschaft antragsbefugt. Das Gericht erkannte die Gesetzeslücke für Personen zwischen 16 und 20 Jahren, die selbst nicht zur Antragstellung in der Lage waren, sah aber seine Hände gebunden. Andere Offizialdelikte  waren nicht einschlägig.

3. Beschwerde vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

X hat 1980 im eigenen und im Namen seiner Tochter vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Beschwerde erhoben.
Er selbst berief sich auf Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Schutz des Privat- und Familienlebens erfordere die Berechtigung von Eltern minderjähriger Kinder, im Falle sexuellen Missbrauchs Rechtsbehelfe einlegen zu dürfen.
Im Namen von Y berief er sich auf Artikel 3 (Verbot der Folter), 8 und 13 sowie Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikeln 3 und 8 EMRK. Artikel 8 EMRK sei verletzt, da es nach niederländischem Recht unmöglich gewesen sei, strafrechtliche Ermittlungen gegen B. zu führen. Allein das Strafrecht könne hinreichenden Schutz für "junge Mädchen wie Y" vor den geschilderten Vorfällen gewährleisten. Die Verletzung des Artikels 3 EMRK liege darin begründet, dass Y unmenschlicher Behandlung ausgesetzt gewesen sei. Dadurch sei ein Trauma von solcher Schwere entstanden, dass der Schutzbereich der Vorschrift eröffnet sei. Unter gewissen Umständen sei der Staat für solche Handlungen Privater verantwortlich.
Artikel 14 sei schließlich verletzt, da die unterschiedliche Behandlung verschiedener Gruppen von Menschen, die hinsichtlich sexualisierter Überfälle besonders schutzbedürftig seien, eine Diskriminierung darstelle.
Die Europäische Kommission leitete die Beschwerde 1983 an den EGMR weiter. Die niederländische Regierung legte einen Gesetzentwurf vor, der einen spezifischen Tatbestand für sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen vorsah und die Gesetzeslücke schloss, und bat darum, von einer Verurteilung abzusehen. Der Schutz des Artikels 8 EMRK könne auch durch zivilrechtliche Ansprüche sichergestellt werden. Artikel 3 EMRK sei nicht verletzt, da keine direkte Kausalverbindung zwischen der Gesetzeslücke und dem Schutzbereich der Vorschrift bestehe. Ferner sei die niederländische Regierung nicht für die Misshandlung von Y verantwortlich.

4. Entscheidung des EGMR

Der EGMR stellt in Bezug auf Y einen Verstoß gegen Artikel 8 EMRK fest, da die niederländische Rechtsordnung minderjährige Opfer sexualisierter Gewalt über 16 Jahren mit Behinderung nicht hinreichend schütze. Dagegen setzt er sich mit der Frage der Beweisbarkeit einer Vergewaltigung nicht auseinander. Eine Prüfung der anderen Artikel der EMRK hält er nicht für notwendig. Nach Auffassung des Gerichts war der Beschwerdeführer selbst durch die Handlung des Staates nicht in seinen Rechten aus der EMRK verletzt.

4.1 Umfang der Staatenverpflichtung unter Artikel 8 EMRK (Rz. 22-30)

Der EGMR betont, dass der Begriff des Privatlebens unter Artikel 8 EMRK die körperliche und psychische Unversehrtheit einer Person inklusive ihres Sexuallebens erfasst. Dies verpflichtet die Staaten dazu, Eingriffe zu unterlassen. Darüber hinaus kann der effektive Schutz des Privat- und Familienlebens auch erfordern, dass der Staat Maßnahmen ergreift, die die Verhältnisse von Privatpersonen untereinander betreffen (Bestätigung der Rechtsprechung "Airey gegen Irland", Beschwerde-Nr. 6289/73). Der EGMR betont, dass die Wahl der Mittel und Wege grundsätzlich dem Staat selbst im Rahmen seines Beurteilungsspielraums obliegt. So bestehe zwar keine allgemeine Verpflichtung, strafrechtliche Maßnahmen zu ergreifen, die Art der Verpflichtung des Staates hänge jedoch von dem jeweils betroffenen Aspekt des Privatlebens ab.
Der EGMR betont, dass, gemessen an der Art der Verletzung im vorliegenden Fall zivilrechtliche Möglichkeiten – einstweilige Verfügung beziehungsweise Unterlassungsklage und Schadenersatzansprüche – inadäquat waren. Sind grundlegende Werte und essenzielle Bereiche des Privatlebens betroffen, sei eine effektive Abschreckung unvermeidbar. Diese ermögliche nur das Strafrecht.
Unter Bestätigung der Entscheidung "Handyside gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 5493/72) stellt der EGMR klar, dass er nicht zur Interpretation nationalen Rechts berufen sei und deshalb die Entscheidung des niederländischen Berufungsgerichts, die Lücke im Gesetz nicht durch eine weite Auslegung zulasten von B. schließen zu können, nicht beanstande. Er stellt aber – nach Auseinandersetzung mit allen relevanten Tatbeständen außer der Vergewaltigung – fest, dass im Ergebnis jedenfalls die niederländische Strafrechtsordnung den erforderlichen praktischen und effektiven Schutz von Y nicht gewährte.

4.2  Keine Eröffnung des Schutzbereiches von Artikel 14 (Diskriminierungsverbot)

Der EGMR ergänzt in aller Kürze, dass Artikel 14 EMRK nicht zwangsläufig Anwendung findet, wenn der Schutzbereich eines Rechts der EMRK eröffnet oder dieses verletzt sei. Vielmehr sei Artikel 14 nur zu prüfen, wenn die Ungleichbehandlung bei der Gewährleistung des betreffenden Rechts einen grundlegenden Aspekt des Falles darstelle. Dies treffe hier nicht zu.

4.3 Entschädigung

Die Anwältin von Y beantragte ein angemessenes Schmerzensgeld, da Y noch sieben Jahre später täglich unter den Auswirkungen der Vergewaltigung leide. Die niederländische Regierung wies den Antrag nicht zurück, verwies aber darauf, dass in erster Linie B dafür verantwortlich sei.
Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin Schmerzensgeld in Höhe von 3.000 Gulden zu, da die Niederlande durch die defizitäre Gesetzeslage zu dem unleugbaren Leid von Y beigetragen hätten.

Entscheidung im Volltext:

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