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Beschwerde-Nr. 7510/04

EGMR, Urteil vom 31.05.2007, Beschwerde-Nr. 7510/04, Kontrava gegen Slovakai

1. Sachverhalt

Dana Kontrová (D. K.) erstattete im November 2002 in der Slowakei Strafanzeige gegen ihren Ehemann wegen Körperverletzung und gab an, er habe sie angegriffen und mit einem Stromkabel geschlagen. Sie legte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor und berichtete von langjährigen körperlichen und seelischen Misshandlungen durch ihren Ehemann. Später erschien sie in der Begleitung ihres Mannes bei der Polizei und schwächte ihre Anzeige so ab, dass nur noch ein geringfügiger Vorwurf zurückblieb, der Maßnahmen von Amts wegen nicht mehr nötig machte.

In einer Dezembernacht riefen eine Verwandte und später D. K. selbst die Polizei, weil ihr Ehemann eine Schusswaffe bei sich hatte und drohte, sich selbst und die Kinder zu erschießen. Eine Polizeistreife fand den Ehemann nicht mehr vor. Auf Vorladung berichtete D. K. am nächsten Tag von der Anzeige und dem Vorfall. Am gleichen Tag erschoss ihr Mann ihre beiden kleinen Kinder und sich selbst. Strafgerichte stellten Nachlässigkeit der drei beteiligten Polizeibeamten fest und dass der Tod der Kinder unmittelbar auf das Fehlverhalten der Polizei zurückzuführen war. Trotzdem stellten sie die strafrechtlichen Ermittlungen ein. D. K. klagte vor dem Verfassungsgericht der Slowakei erfolglos auf Schmerzensgeld.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

D. K. berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2004 auf Artikel 2 (Recht auf Leben), 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Artikel 2 und 8 EMRK seien verletzt, weil die Behörden das Leben der Kinder nicht ausreichend geschützt hätten. Sie hätten die Drohungen des Ehemannes als strafbare Handlungen ansehen und diese von sich aus ermitteln und verfolgen müssen. Eine Verletzung von Artikel 13 und 6 EMRK liege vor, da es ihr nicht möglich gewesen sei, eine Entschädigung zu erhalten.

Die slowakische Regierung wies die Beschwerde zurück. Der Beschwerdeführerin hätte eine zivilrechtliche Schadensersatzklage wegen einer Ehrverletzung auf Schmerzensgeld erheben können. Ferner sei ordnungsgemäß ermittelt und die Verantwortlichen seien bestraft worden.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 2 (Recht auf Leben) und von Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) fest, weil die Behörden das Leben der Kinder nicht ausreichend geschützt hätten und es der Mutter nicht möglich gewesen sei, eine Entschädigung zu erhalten. Einen Rückgriff auf Artikel 8 und 6 EMRK hielt er nicht für erforderlich, da der Unrechtsgehalt dem Wesen nach nicht über die Verletzungen von Artikel 2 und 13 EMRK hinausgehe.

3.1 Umfang der staatlichen Schutzverpflichtung gegenüber Privatpersonen (Rz. 49 ff.) Grundsätze

Der EGMR betonte zunächst, dass Staaten die vorrangige Verpflichtung hätten, Straftaten durch effektive, abschreckende Strafgesetze vorzubeugen und einen Strafverfolgungsapparat für die Verhinderung, Beseitigung und Bestrafung von Verstößen gegen diese Vorschriften zu unterhalten. Unter gewissen Umständen könne Artikel 2 EMRK auch die Verpflichtung einschließen, Präventionsmaßnahmen zum Schutz von Privatpersonen zu treffen, deren Leben durch andere Privatpersonen gefährdet sei. Jedoch dürfe diese Pflicht nicht zu weit ausgelegt werden. Nicht jede behauptete Lebensgefährdung könne zu einer Verpflichtung unter der EMRK führen, Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Damit eine Verpflichtung angenommen werden könne, müsse vielmehr feststehen, dass

  1. die Behörden zu dem entsprechenden Zeitpunkt wussten oder hätten wissen müssen, dass das Leben eines Menschen durch einen anderen Menschen tatsächlich und unmittelbar gefährdet sei;
  2. die Behörden versäumt haben, in ihrem Zuständigkeitsbereich liegende Maßnahmen zu treffen, von denen bei verständiger Betrachtung angenommen werden könne, dass sie diese Gefahr hätten verhindern können.

Damit bestätigte der EGMR seine Rechtsprechung zur verfahrensrechtlichen Staatenverpflichtung nach Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 1 EMRK aus den Entscheidungen "Osman gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 23452/94) und "McCann und andere gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 19009/04).

Anwendung der Grundsätze
Bei der Anwendung dieser Grundsätze stellte der EGMR eine Verletzung fest. Zum einen entnahm der Gerichtshof den Bestimmungen der slowakischen Strafprozessordnung und des Dienstrechts folgende Verpflichtungen der Polizei in Bezug auf den Fall von D. K.:
a) Aufnahme und Dokumentation ihrer Strafanzeige;
b) sofortige Aufnahme von Ermittlungen gegen den Ehemann und Beginn der Strafverfolgung;
c) ordnungsgemäße Dokumentation der Notrufe und Anweisung weiterer Maßnahmen;
d) sofortige Reaktion auf die Meldung, dass der Ehemann im Besitz einer Schusswaffe sei und gewaltsame Drohungen ausgesprochen habe.

Zum anderen stellte der EGMR darauf ab, dass die Familiensituation durch die Anzeige, die Notrufe und das mehrmalige persönliche Erscheinen von D. K. der örtlichen Polizei bekannt gewesen sei. Zudem habe D. K. so schwerwiegende Vorwürfe erhoben, wie Schläge mit einem Stromkabel, langjährige körperliche und seelische Misshandlungen sowie Drohungen mit einer Schusswaffe. Die Polizei sei nicht nur untätig geblieben. Vielmehr habe - nach den Feststellungen der slowakischen Gerichte - einer der Beamten die Beschwerdeführerin und ihren Ehemann dabei unterstützt, die Strafanzeige zu verändern, sodass nur noch eine geringfügige Verfehlung im Raum gestanden habe. Der Tod der Kinder sei, wie die Gerichte bestätigten, die direkte Folge des Pflichtverstoßes gewesen.

3.2 Staatenverpflichtung, bei Verletzungen des Rechts auf Leben einen Schmerzensgeldanspruch für Angehörige vorzusehen (Rz. 62 ff.)

Der EGMR prüfte die Frage, ob Artikel 13 eine Verpflichtung des Staates enthielte, einen Schmerzensgeldanspruch bei Verletzung des Rechts auf Leben zu gewährleisten. Er wies darauf hin, dass er selbst in geeigneten Fällen Schmerzensgeld bei erlittenem Leid und Schmerzen, Stress, Sorge und Frustration zuspreche. Unter Berufung auf "Keenen gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 27229/95) stellte er fest, dass zumindest bei einer Verletzung der grundlegenden Artikel 2 und 3 EMRK ein auf Schmerzensgeld gerichteter nationaler Rechtsbehelf zugänglich sein sollte.

Der EGMR stellte auch in diesem Punkt eine Verletzung fest. Der Beschwerdeführerin hätte wegen des Schadens, den sie und ihre Kinder durch deren Tötung erlitten haben, ein solcher Rechtsbehelf zur Verfügung stehen sollen. Nach Auffassung des Gerichtshofs genügte der zivilrechtliche Rechtsbehelf wegen Ehrverletzung den Anforderungen nicht, da es zum damaligen Zeitpunkt keine ausreichende Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen gegeben habe. Es sei nicht ersichtlich gewesen, ob der Rechtsbehelf in der Praxis hinreichend verlässlich gewesen sei und ausreichende Erfolgsaussichten im Sinne eines "effektiven Rechtsbehelfs" geboten hätte. Zudem wies der EGMR darauf hin, dass auch die danach ergangene Rechtsprechung lediglich aus der ersten Instanz stamme und nicht ersichtlich sei, ob diese rechtskräftig geworden sei.

3.3 Entschädigung

Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin ohne weitere Begründung eine Entschädigung in Höhe von 25.000 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:

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