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Beschwerde-Nr. 74839/10

EGMR, Urteil vom 16.07.2013, Beschwerde-Nr. 74839/10, Mudric gegen Moldawien

1. Sachverhalt

Die 72-jährige Lidia Mudric (L. M.) lebte nach der Scheidung von ihrem Ehemann A. M. vor 22 Jahren in Moldawien in ihrem eigenen Haus direkt neben dessen Haus. A. M. war wegen Schizophrenie immer wieder behandelt worden. In den 1980er-Jahren hatte er L. M. regelmäßig geschlagen, weil er glaubte, sie wolle ihn vergiften.

Zwischen Dezember 2009 und Dezember 2010 drang A. M. mehrfach in das Haus von L. M. ein und schlug sie insgesamt vier Mal zusammen. Seit Februar 2010 wohnte er permanent bei L. M., die teilweise bei der Nachbarschaft Schutz suchte. Sie holte bei den ersten beiden Vorfällen ärztliche Atteste ein, erstattete Anzeigen bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und anderen Behörden. Sie forderte Schutzmaßnahmen und Bestrafung von A. M. Die Polizei bestätigte ihre Berichte, sagte aber, sie könne wegen seiner psychischen Erkrankung nichts unternehmen. Später ermittelte sie wegen Hausfriedensbruch. L. M. erwirkte drei gerichtliche Wohnungsverweise, die nicht vollstreckt wurden. Wegen Missachtung der Anordnung leiteten die Behörden Strafverfahren ein, wobei eine medizinische Kommission paranoide Schizophrenie bei A. M. diagnostizierte und wegen seiner Gefährlichkeit eine stationäre Behandlung empfahl.

Nach einem erneuten Übergriff verwarnten die Polizei sowie die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter A. M. wegen Sachbeschädigung, nachdem er sich geweigert hatte, das Haus zu verlassen. 2011 sprach ein Gericht A. M. vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs mangels Schuldfähigkeit frei und erlegte ihm eine psychiatrische Behandlung auf. L. M. und ihre Anwältin legten Beschwerde wegen der Verletzung von Verfahrensrechten ein. Auf ihre Anfrage hin erklärte die Polizei, dass nur der Gerichtsvollzieher die Wohnungsverweisung vollstrecken könne. Drei Tage später brachte die Polizei A. M. zur medizinischen Behandlung in ein spezialisiertes Krankenhaus. Die von L. M. angeregten Ermittlungen gegen die Polizeibeamten wegen Beteiligung an häuslicher Gewalt wurden abgelehnt.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

L. M. berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2010 unter anderem auf Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Artikel 3 EMRK sei verletzt worden, da die moldawischen Behörden die Misshandlungen von A. M. in ihrem eigenen Haus geduldet und weitere Taten nicht verhindert hätten. Ferner hätten sie es versäumt, die Gerichtsentscheidungen, die zu ihrem Schutz vor häuslicher Gewalt ergangen seien, umzusetzen. L. M. habe als 72-Jährige, die seit 22 Jahren von ihrem Mann geschieden sei, als "besonders verletzliche Person" geschützt werden müssen.

Die Behörden hätten wegen der Anzeigen und der Beschwerden der Nachbarin gegenüber dem Dienststellenleiter Kenntnis von der Gewalt gegen sie gehabt. Die einzige effektive Maßnahme der Behörden sei allerdings erst 13 Monate nach der ersten Anzeige getroffen worden. Trotz der Notlage hätten die Behörden nicht schnell genug reagiert. L. M. sei nicht unverzüglich vor weiterer Gewalt geschützt worden. Ferner hätten die Behörden die Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt nicht zeitnah umgesetzt, obwohl A. M. die Schutzanordnungen wiederholt missachtet habe. Stattdessen hätten die Behörden ihren Fall als geringfügig betrachtet, obwohl häusliche Gewalt häufig nicht angezeigt werde. Erstatten die Betroffenen dennoch Anzeige, müssen sie häufig Einschüchterungen des Täters erdulden. Werde dies nicht beachtet und die betroffene Person verpflichtet, Strafverfahren einzuleiten oder weiterzuführen, damit Gerichtsentscheidungen auch vollstreckt würden, werde die Effektivität der dem Schutz der Betroffenen dienenden Gesetzgebung unterwandert. Letztlich habe der Staat A. M. zu weiterer Gewalt ermutigt, da die Behörden seine psychische Erkrankung als Entschuldigung dafür genutzt hätten, um die zahlreichen Schutzanordnungen nicht vollstrecken zu müssen.

Artikel 14 EMRK sei verletzt worden, weil die moldawischen Behörden die Gesetze zum Schutz gegen häusliche Gewalt aufgrund ihrer vorgefertigten Vorstellung über die Rolle der Frau in der Familie nicht angewendet hätten. Damit hätten sie weitere Gewalt gegen L. M. begünstigt, da A. M. sich weitgehend immun gegen staatliche Sanktionen hätte fühlen können. Die Gewalt sei geschlechtsspezifisch gewesen und sei deshalb diskriminierend im Sinne der Vorschrift.

Die moldawische Regierung wies die Beschwerde zurück. Die Behörden hätten alle angemessenen Schutzmaßnahmen getroffen. Gerichte hätten Schutzanordnungen erlassen und Polizei wie Sozialeinrichtungen hätten A. M. mehrfach aufgesucht. Zwei Mal hätten die Behörden Ermittlungen gegen ihn aufgenommen; sie hätten ihm Verwaltungsmaßnahmen auferlegt und ihn zur angeordneten medizinischen Behandlung gebracht. Bei zwei Vorfällen habe die Beschwerdeführerin kein ärztliches Gutachten eingeholt. Ferner bestünden Ungereimtheiten zwischen den einzelnen Beschwerden und Anzeigen. Zudem hätten die Gerichte nach dem dritten Vorfall umgehend eine weitere umfassende Schutzanordnung getroffen. Andere Maßnahmen seien wegen der psychischen Erkrankung von A. M. nicht möglich gewesen.

Auch Artikel 14 EMRK sei nicht verletzt worden. Im Gegensatz zur Entscheidung "Opuz gegen die Türkei" (Beschwerde-Nr. 33401/02) hätten die Behörden alle angemessenen Schutzmaßnahmen getroffen. Das Ausmaß von Gewalt und Drohungen sei erheblich geringer gewesen. Mögliche Mängel in der Umsetzung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt seien darauf zurückzuführen, dass es damals noch neu gewesen sei.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) fest, da die moldawischen Behörden den Fall nicht mit der gebotenen Sorgfalt bearbeitet haben. Insbesondere die unerklärlich langen Verzögerungen bei der Vollstreckung der Schutzanordnungen und der verordneten medizinischen Behandlung wegen Schizophrenie stellten einen Verstoß gegen die staatlichen Verpflichtungen aus Artikel 3 EMRK dar.

Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 3 EMRK sei verletzt worden, da die Kombination aus der Zahl der Gewalttaten und der nicht vollstreckten Schutzanordnungen, dem offenkundigen Unwillen von A. M., die Anordnungen zu befolgen, und den unterlassenen rechtlichen Möglichkeiten zum Einschreiten der Behörden den Rückschluss auf die Duldung von häuslicher Gewalt und einer diskriminierenden Haltung gegen Frauen zuließen.

3.1 Verletzung von Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 1 EMRK (Rz. 39 ff.) Grundsätze

Der EGMR betonte, dass Artikel 3 EMRK nur anwendbar sei, wenn ein bestimmter Schweregrad an Verletzungen erreicht sei. Dieser Grad sei relativ und an den Umständen des Einzelfalls zu messen. Dazu gehörten zum Beispiel Art, Dauer und Zusammenhang der Misshandlungen sowie ihre körperlichen und seelischen Auswirkungen und, in bestimmten Fällen, Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand der betroffenen Person (ständige Rechtsprechung, siehe beispielsweise "Kudła gegen Polen", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 30210/96). Auch wenn ein Staat nicht direkt für die Handlungen von Privatpersonen verantwortlich gemacht werden könne, hafte er dennoch, wenn er seine Verpflichtungen aus Artikel 1 EMRK nicht erfülle, nämlich angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Privatpersonen gegen Misshandlungen - auch durch Private - zu schützen ("A. gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 25599/94; "Opuz gegen die Türkei"). Dies schließe den effektiven Schutz bekanntermaßen betroffener Personen gegen Straftaten Dritter ebenso ein wie angemessene Schritte, um Misshandlungen vorzubeugen, von denen die Behörden wussten oder hätten wissen müssen (ständige Rechtsprechung siehe "Osman gegen des Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 23452/94). Es sei zwar nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, die Einschätzung der nationalen Behörden hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Erfüllung ihrer Verpflichtung unter Artikel 3 EMRK zu ersetzen ("Bevacqua und S. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 71127/01). Jedoch müsse der EGMR sicherstellen, dass der Staat seine Schutzverpflichtungen angemessen erfüllt habe ("Nikolova und Velichkova gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 7888/03).

Des Weiteren verpflichte Artikel 3 EMRK die nationalen Behörden zu effektiven Ermittlungen auch bei Misshandlungen durch Privatpersonen (siehe unter anderem "M. C. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 39272/98). Effektiv seien Ermittlungen, die geeignet seien, grundsätzlich zur Ermittlung des Sachverhalts sowie zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu führen. Dabei achte der EGMR im Zusammenhang mit den Artikeln 2 und 3 EMRK insbesondere darauf, ob die Eröffnung von Ermittlungen oder Befragungen verzögert worden seien beziehungsweise wie lang die Vorermittlungen gewesen seien ("Denis Vasilyev gegen Russland", Beschwerde-Nr. 32704/04; "Stoica gegen Rumänien", Beschwerde-Nr. 42722/02). Zudem könne ein Eingriff in das Privat- oder Familienleben notwendig sein, um die Rechte oder die Gesundheit anderer zu schützen oder Straftaten vorzubeugen ("Opuz gegen die Türkei"). Zu diesem Zwecke seien Staaten verpflichtet, ein angemessenes Rechtssystem zu errichten und anzuwenden, das Schutz gegen Gewalt durch Privatpersonen biete ("X und Y gegen die Niederlande", Beschwerde-Nr. 8978/80; "Bevacqua und S. gegen Bulgarien"; "M. C. gegen Bulgarien").

Anwendung der Grundsätze auf das Verfahren
Der EGMR stellte zunächst fest, dass in diesem Fall eine Verletzung von Artikel 3 EMRK vorliege: L. M. habe bei zwei Vorfällen Atteste eingeholt. Auch wenn sie bei den beiden weiteren Gewalttaten keinen Arzt besucht habe, hätten Polizei und Gericht anerkannt, dass A. M. sie auch bei anderen Gelegenheiten verletzt habe. Ferner sei auch die Angst vor weiteren Schlägen schwer genug gewesen, um Leid und Besorgnis hervorzurufen, sodass von einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Artikel 3 EMRK auszugehen sei.

Staatenverpflichtungen nach Artikel 3 EMRK bei Misshandlungen durch Privatpersonen
Der EGMR wiederholte, dass die Staatenverpflichtung unter Artikel 3 EMRK zum einen erfordere, dass die Staaten den rechtlichen Rahmen zur Vorbeugung und Bestrafung von Misshandlungen durch Privatpersonen bereitstellten (Staatenverpflichtung zur Rechtsetzung), zum anderen die Anwendung dieser Vorschriften durch Betroffenenschutzmaßnahmen und Bestrafung der Verantwortlichen nötig mache, wenn die Behörden Kenntnis von einem unmittelbaren Misshandlungsrisiko für Betroffene oder von bereits geschehenen Misshandlungen erlangten (Staatenverpflichtung zur Rechtsanwendung).

Kein Verstoß gegen die Staatenverpflichtung im Bereich der Rechtsetzung
Der EGMR stellte fest, dass Moldawien seiner Rechtsetzungspflicht genügt habe. Das moldawische Recht sehe besondere strafrechtliche Sanktionen vor für Gewalt gegen Familienmitglieder, Schutzmaßnahmen für Betroffene und Sanktionen bei Verstößen dagegen.

Verstoß gegen die Staatenverpflichtung im Bereich der Rechtsanwendung
Der EGMR stellte aber einen Verstoß gegen die Rechtsanwendungspflicht fest durch die Art und Weise, wie die Behörden den Fall behandelt hätten. Trotz ihrer Kenntnis von der Gewalt vor allem hinsichtlich der unmittelbaren Gefahr weiterer Taten, hätten es die Behörden versäumt, angemessene und vor allem zeitnahe Schutzmaßnahmen zu treffen.

A. M. sei langjährig psychisch erkrankt gewesen und in einem psychiatrischen Gutachten als Gefahr für die Gesellschaft eingeordnet worden. Seine negativen Gefühle gegenüber L. M. seien bekannt gewesen. Die Erkrankung und die Gefühle allein könnten zwar nicht zu dem Schluss führen, dass eine unmittelbare Gefahr vorgelegen habe. Spätestens aber zu dem Zeitpunkt, als A. M. zwangsweise in das Haus eindrang und L. M. zusammenschlug, sei die Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit von L. M. auch für die Behörden überdeutlich gewesen.

Vor dem Hintergrund der langjährigen psychischen Erkrankung von A. M., seiner Gefährlichkeit und seiner negativen Gefühle gegenüber L. M. hätten die Gerichte die medizinische Behandlung früher anordnen müssen. Jedenfalls sei die Verspätung von mehr als einem Jahr nicht erklärbar. Die Beschwerdeführerin sei als damals 72-Jährige besonders verletzlich gegenüber Gewalttaten von A. M. gewesen, der sie schon seit vielen Jahren misshandelt habe. Dadurch, dass er in ihr Haus gewaltsam eingedrungen und dort geblieben war, habe er jederzeit die Möglichkeit gehabt, sie zu misshandeln. Deshalb sei die Gefahr für die körperliche und seelische Unversehrtheit von L. M. unmittelbar und schwerwiegend genug gewesen, dass die Behörden hätten schnell handeln müssen. Da A. M. als geschiedener Ehemann nicht mehr zur Familie von L. M. gehörte, hätten die Behörden von Amts wegen Strafverfahren mindestens wegen dreier Straftaten (Körperverletzung und Nötigung, Einbruch und Nichtbefolgen von Gerichtsentscheidungen) aufnehmen können und so zu schnellen Maßnahmen im Straf- oder Maßregelverfahren kommen können.

Dagegen seien die Maßnahmen der Behörden ineffektiv geblieben. A. M. sei über ein Jahr nach der ersten Beschwerde im Haus der L. M. geblieben. Erst nach sechs Monaten sei ein Verfahren wegen Hausfriedensbruch, nach acht Monaten wegen Verstoßes gegen die Schutzanordnung aufgenommen worden. Wegen der Gewalt selbst sei gar nicht ermittelt worden. Die Weigerung von A. M. sei so offensichtlich gewesen, dass die Gerichte zwei weitere Schutzanordnungen erlassen hätten. Trotz alledem habe es bis zum März 2011 gedauert, bis die Polizei A. M. schließlich aus dem Haus entfernt habe.

3.2 Verletzung von Artikel 14 EMKR - Häusliche Gewalt als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Rz. 61 ff.)

Der Gerichtshof stellte aufgrund der besonderen Einzelfallumstände eine Verletzung der Rechte von L. M gemäß Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) fest. Der EGMR bestätigte seine Rechtsprechung aus "Opuz gegen die Türkei", wonach das (auch unbeabsichtigte) staatliche Versäumnis, Frauen gegen häusliche Gewalt zu schützen, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletze.

Der EGMR schloss aus der Gesamtschau des Verhaltens der moldawischen Strafverfolgungsbehörden, dass es sich nicht um einen Einzelfall oder eine bloße Verzögerung handele. Vielmehr liege eine wiederholte stillschweigende Duldung von Gewalt gegen die Beschwerdeführerin nahe, die eine diskriminierende Haltung der Behörden gegenüber L. M. als Frau widerspiegele. Hier bezog sich der EGMR auch auf die Berichte der UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen über Moldawien, wonach die Behörden die Ernsthaftigkeit und das Ausmaß der Problematik häuslicher Gewalt und der diskriminierenden Auswirkungen auf Frauen nicht voll erfasst hätten.

3.3 Entschädigung

Der EGMR sprach L. M. aufgrund der Schwere der festgestellten Verstöße eine Entschädigung in Höhe von 15.000 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:

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