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Beschwerde-Nr. 73316/01

EGMR, Urteil vom 26.07.2005, Beschwerde-Nr. 73316/01, Siliadin gegen Frankreich

1. Sachverhalt

Frau Siliadin (S.), eine togolesische Staatsangehörige, reiste 1994 im Alter von 15 Jahren mit einem Touristenvisum und Unterstützung einer Reisebegleitung nach Frankreich ein. Zwischen der Familie von S. und der Reisebegleitung gab es die Vereinbarung, dass sie durch Hausarbeit die Kosten der Reise abarbeiten würde, um dann, nach Regulierung ihres Aufenthaltsstatus, in Frankreich zur Schule gehen zu können.

Sie wurde aber stattdessen zur Hausarbeit an eine französische Familie übergeben, die ihr den Pass abnahm. S. arbeitete nach eigenen Angaben ohne Bezahlung, sieben Tage die Woche, bis zu 15 Stunden am Tag. Sie konnte fliehen, kehrte aber aufgrund moralischen Drucks ihrer Familie und des Versprechens ihrer Arbeitgeberin, ihren Aufenthaltsstatus zu regeln, zurück. Nach mehreren Jahren konnte sie mit Unterstützung einer Beratungsstelle die Arbeitgeberin endgültig verlassen.

2. Verlauf des Verfahrens in Frankreich

S. zeigte ihre Arbeitgeber an. Diese wurden 1999 unter anderem in erster Instanz nach Artikel 225-13 des französischen Strafgesetzbuches verurteilt. Hiernach macht sich strafbar, wer eine Person ohne Bezahlung oder zu einer Bezahlung, die in einem Missverhältnis zur geleisteten Arbeit steht, beschäftigt und dabei eine Abhängigkeit oder Hilflosigkeit der Person ausnutzt. Die Abhängigkeit hat das Gericht mit dem irregulären Aufenthaltsstatus von S. und ihrer damit einhergehenden Angst begründet. Ihr wurde Schadenersatz zugesprochen.

Eine Verurteilung wegen Artikel 225-14 erfolgte entgegen der Anklage nicht. Hiernach macht sich strafbar, wer eine Person Arbeits- und Lebensbedingungen aussetzt, die unvereinbar sind mit der Menschenwürde. Nach Auffassung des Gerichts waren die Arbeitsbedingungen von S. hart, aber nicht unvereinbar mit der Menschenwürde. Hiergegen legte sie Rechtsmittel ein.

Das Gericht der 2. Instanz entschied auf Freispruch. Da sie damals ihren Arbeitgeber hatte verlassen können und zu ihm zurückgekehrt war, sah das Gericht Hilflosigkeit oder Abhängigkeit als nicht gegeben an.

S. legte erneut Rechtsmittel ein. Da die Staatsanwaltschaft sich an dem Punkt dem Rechtsmittel nicht anschloss, musste der Freispruch stehen bleiben und es konnte nur über den zivilrechtlichen Aspekt des Schadenersatzanspruchs entschieden werden.

In der letztinstanzlichen Entscheidung bestätigte das Gericht die Beurteilung der 1. Instanz als korrekt und ordnete die Zahlung von 15.245 Euro Schadenersatz an.

Im Oktober 2003 sprach parallel dazu ein Arbeitsgericht S. 31.238 Euro zu.

3. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Im April 2001 reichte S. Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Sie war der Auffassung, dass Frankreich seine positiven Verpflichtungen aus Artikel 4 EMRK verletzt habe. Frankreich habe keine Strafrechtsnormen, die sie ausreichend gegen Leibeigenschaft oder zumindest die Zwangsarbeit, die sie leisten musste, schützen konnten.

Die zivilrechtliche Entschädigung, die sie von den Tätern bekommen habe, sei hierfür nicht ausreichend.

4. Feststellungen des Gerichts zum Anwendungsbereich von Artikel 4 EMRK (Verbot von Zwangsarbeit)

Der EGMR stellte in seinem Urteil ausdrücklich fest, dass Artikel 4 zusammen mit den Artikeln 2 (Recht auf Leben) und 3 (Folterverbot) die grundlegenden Werte der demokratischen Gesellschaften der Länder des Europarates ausmachen.

Das Gericht setzte sich ausführlich mit der Definition der einzelnen Alternativen in Artikel 4 - Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangsarbeit - auseinander und prüfte, welche davon auf die Beschwerde von S. zutreffen.

4.1 Zwangsarbeit

Der EGMR definierte Zwangsarbeit im Sinne des Artikel 4 mit Rückgriff auf die oben erwähnten Konventionen als Arbeit, die eine Person gegen ihren Willen unter Androhung von Strafe leistet.

S. war zwar keine ausdrückliche Strafe angedroht worden, ihre Situation als minderjährige irreguläre Migrantin, die mit Ausweisung aus Frankreich unter Druck gesetzt worden war, wertete der EGMR aber als vergleichbar schwerwiegend. Diese Umstände begründeten somit zumindest Zwangsarbeit im Rahmen des Artikels 4 EMRK.

4.2 Leibeigenschaft

Unter Bezugnahme auf frühere eigene Rechtsprechung ("Van Droogenbroeck gegen Belgien") definierte der EGMR Leibeigenschaft im Sinne von Artikel 4 als die Verpflichtung, für andere Arbeit zu leisten unter starker Beschränkung der Freiheit. Dazu kommt die Verpflichtung, auf dem Grundstück der anderen Person leben zu müssen, ohne dies ändern zu können.

Das Gericht war der Auffassung, dass S. als minderjährige irreguläre Migrantin vollständig abhängig gewesen war von ihren Arbeitgebern. Sie hatte das Haus nur verlassen dürfen, um die Kinder zu betreuen. Unter zusätzlicher Berücksichtigung ihrer Arbeitsbedingungen, der Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit sowie ihrer mangelnden Ausweichmöglichkeiten bejahte der EGMR, dass es sich um Leibeigenschaft gehandelt hatte.

4.3 Sklaverei

Bei der Definition dieses Begriffs bezog sich der EGMR auf das klassische Konzept von Sklaverei. Der UN-Konvention gegen Sklaverei von 1927 zufolge bezeichnet Sklaverei den Zustand einer Person, über die eine andere Person Eigentumsrechte ausübt. Dies war bei S. nicht der Fall gewesen.

5. Feststellungen des Gerichts zu den positiven Pflichten im Rahmen von Artikel 4 EMRK (Verbot von Zwangsarbeit)

Mit Bezugnahme auf andere internationale Instrumente wie die ILO-Konvention gegen Zwangsarbeit von 1930 oder das "Zusatzabkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und der Institutionen und der Sklaverei ähnliche Praktiken" der Vereinten Nationen von 1956, stellte das Gericht fest, dass aus Artikel 4 positive Verpflichtungen des Staates erwachsen, strafrechtliche Normen gegen Zwangsarbeit einzuführen und diese in der Praxis effektiv anzuwenden.

Das Gericht konkretisierte diese Verpflichtungen, indem es auf seine eigene Rechtsprechung zurückgriff. In anderen Zusammenhängen hatte der EGMR festgestellt, dass Kindern oder anderen verletzlichen Gruppen staatlicher Schutz im Sinne von wirkungsvoller Abschreckung durch effektives Strafrecht zusteht, und dass in Fällen von Vergewaltigung eine zivilrechtliche Reaktion des Staates nicht ausreichend ist.

Im Fall von S. hat sich das französische Strafrecht als nicht geeignet erwiesen, das Verhalten der Täter zu bestrafen. Sklaverei und Leibeigenschaft sind als solche nicht vom Strafrecht erfasst. Darüber hinaus waren die Straftatbestände nicht hinreichend klar formuliert, somit offen für verschiedene Interpretationen und nicht geeignet für eine eindeutige Reaktion des Staates auf Zwangsarbeit. Hierin sah das Gericht die Verletzung von Artikel 4 EMRK begründet.

Entscheidung im Volltext:

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