Beschwerde-Nr. 63034/11
EGMR Urteil vom 28.06.2016, Beschwerde-Nr. 63034/11, Halime Kılıç gegen Türkei
1. Sachverhalt
F. B., die Tochter der Beschwerdeführenden, wurde von ihrem Ehemann misshandelt. Im Juli 2008 stellte sie Strafanzeige wegen häuslicher Gewalt und beantragte Schutzmaßnahmen. Dies tat sie mehrfach, weil ihr Mann sich nicht an die ihm erteilten Unterlassungsanordnungen hielt. Nachdem die Polizei bei ihm mehrere Messer gefunden hatte, wurde er kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen, anschließend jedoch wieder freigelassen. Einige Monate später tötete er seine Ehefrau und beging nach der Tat Selbstmord.
Am 13. Januar 2009 reichte die Mutter von F. B. bei der Staatsanwaltschaft eine Beschwerde wegen Pflichtverletzung ein. Sie verlangte die Identifizierung und Verfolgung der Beamt_innen, die trotz der vielen Anzeigen ihrer Tochter keine wirksamen Ermittlungen durchgeführt und damit deren Tod verursacht hatten. Die Staatsanwaltschaft wies die Beschwerde zurück mit der Begründung, dass es nicht genügend Beweise gebe, um die Beamt_innen strafrechtlich zu verfolgen. Am 4. April 2011 wurde die Entscheidung durch das Schwurgericht bestätigt.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Die Beschwerdeführende berief sich in ihrer Beschwerde auf Artikel 2 (Recht auf Leben) und 14 (Diskriminierungsverbot) EMRK. Sie war überzeugt, dass die innerstaatlichen Behörden es unterlassen hätten, das Leben ihrer Tochter zu schützen. Sie wies insbesondere darauf hin, dass die Behörden mehrfach die Anträge ihrer Tochter auf Schutzmaßnahmen zurückgewiesen und ihr aufgrund der Tatsache, dass sie sieben Kinder hatte, keinen Zugang zu einem Frauenhaus gewährt hätten. Ferner sei nach dem Tod ihrer Tochter keine wirksame Untersuchung durchgeführt worden. Sie meinte zudem, ihre Tochter sei aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert worden. In diesem Zusammenhang wies sie darauf hin, dass sich zwar die Gesetze geändert hätten, die Einstellungen von Beamt_innen und Richter_innen aber nicht. Sie sähen häusliche Gewalt als innerfamiliäre Angelegenheit. Es werde nichts unternommen, um Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen und ihr Leben zu retten. Die Zahl der Frauenhäuser sei unzureichend, die Opfer häuslicher Gewalt würden weder materiell noch sozial unterstützt. Es gebe immer noch keine Polizeieinheit, die sich auf Gewalt gegen Frauen spezialisiert hat.
Die türkische Regierung bedauerte den Tod der Tochter der Beschwerdeführenden. Gleichzeitig betonte sie, dass die Behörden nach jeder Anzeige unverzüglich Maßnahmen ergriffen und Ermittlungen durchgeführt hätten (zum Beispiel Zeug_innenbefragungen und forensische Berichte), um zu überprüfen, ob diese Beschwerden gerechtfertigt waren. Das Familiengericht habe auch eine Verfügung erlassen, in der festgelegt wurde, dass der Ehemann die gemeinsame Wohnung verlassen soll und gewalttätiges oder einschüchterndes Verhalten gegenüber seiner Frau zu unterlassen hat. Ferner argumentierte die Regierung, dass die Bedingungen für den Zugang zu einem Frauenhaus in einer Verordnung festgelegt sind. Die Tatsache, dass die Verstorbene sieben Kinder hatte, sei kein Hindernis für ihre Aufnahme in einem Frauenhaus gewesen. Sie habe aber keinen Antrag auf Aufnahme gestellt.
Zur behaupteten Verletzung des Diskriminierungsverbots betonte die Regierung, dass die Türkei das Istanbul-Übereinkommen (Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, CETS-Nr. 210) ratifiziert hat, und wies auf weitere Rechtsakte hin, die als Ziel die Bekämpfung der häuslichen Gewalt haben. Darüber hinaus hätten zahlreiche Schulungen und Sensibilisierungsmaßnahmen stattgefunden. Damit habe die Türkei ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 2, 13 und 14 EMRK wirksam erfüllt. Wenn es in der Vergangenheit in der Praxis noch Mängel gegeben habe, so seien seither viele rechtliche und praktische Schutz- und Nichtdiskriminierungsmaßnahmen ergriffen worden.
3. Entscheidung des EGMR
Der EGMR stellt eine Verletzung des Rechts auf Leben (Artikel 2 EMRK) fest, da die Tochter der Beschwerdeführenden vor den Angriffen durch ihren Ehemann nur unzureichend geschützt wurde. Darüber hinaus sieht er darin eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Artikel 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Leben (Artikel 2 EMRK).
Recht auf Leben (Rz. 91 ff)
Der EGMR verweist auf das Urteil "Opuz gegen Türkei" (Beschwerde-Nr. 33401/02)/typo3/, in dem die allgemeinen Prinzipien zu häuslicher Gewalt formuliert wurden. Er erinnert daran, dass der Staat in der Pflicht ist, Kinder und andere "verletzliche Personen" in besonderem Maße zu schützen und schwere Verletzungen der persönlichen Unversehrtheit effektiv zu verhindern. Diese positiven Verpflichtungen erfordern ein wirksames und unabhängiges gerichtliches System, damit die Todesursachen festgestellt und die Verantwortlichen bestraft werden können.
Im vorliegenden Fall wandte sich die Betroffene mehrmals an die Behörden und beklagte die Misshandlungen durch ihren Mann. Jedes Mal äußerte sie Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder. Sie verlangte mehrmals nach Schutz. Die türkischen Behörden reagierten jedoch nicht angemessen und nicht ausreichend schnell. Sie erließen zwar einstweilige Verfügungen, diese erwiesen sich jedoch als unwirksam. Insbesondere wurden sie mit Verzögerung erlassen. Zum Beispiel wurde die erste einstweilige Verfügung dem Täter erst nach 19 Tagen zugestellt, als seine Frau bereits erneut zum Opfer häuslicher Gewalt geworden war. Darüber hinaus wurde den behördlichen Auflagen jede Wirksamkeit dadurch genommen, dass der Ehemann nie bestraft wurde, obwohl er sie nicht erfüllte. Ferner wurde keine Untersuchungshaft angeordnet, obwohl festgestellt wurde, dass der Ehemann eine Gefahr für seine Frau darstellte. Dies trug zu einem Klima der Straffreiheit bei und führte dazu, dass der Ehemann weiter seine Frau misshandeln konnte, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen. Der EGMR betont ferner, dass den nationalen Behörden die Pflicht oblag, die besonders schwierige Situation der Ehefrau zu berücksichtigen und ihr geeignete Unterstützung anzubieten. Die Behörden versäumten es aber, für sie einen geeigneten Platz zu finden, wo sie und ihre sieben Kinder hätten Zuflucht finden können.
Diskriminierungsverbot (Rz. 112)
Der EGMR verweist auf die Grundsätze zum Diskriminierungsverbot in seiner ständigen Rechtsprechung. Danach ist eine Diskriminierung im Sinne von Artikel 14 EMRK als Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen ohne objektive und angemessene Rechtfertigung zu verstehen ("D. H. gegen Tschechische Republik" [Große Kammer], Beschwerdenummer 57325/00). Auch allgemeine politische Maßnahmen können als diskriminierend erachtet werden, wenn sie eine unverhältnismäßige Benachteiligung einer Gruppe nach sich ziehen, selbst wenn sie nicht gezielt gegen diese Gruppe gerichtet waren. Wenn eine unterschiedliche Behandlung festgestellt wird, obliegt es der Regierung zu beweisen, dass diese gerechtfertigt war.
Der EGMR erinnert daran, dass auch ein nicht vorsätzliches Versäumnis des Staates, Frauen gegen häusliche Gewalt zu schützen, gegen ihr Recht auf Gleichheit verstößt ("Opuz gegen Türkei"). Ferner folgt aus Artikel 3 der Istanbul-Konvention, dass der Tatbestand "Gewalt gegen Frauen" als Verletzung der Menschenrechte und als eine Form der Diskriminierung von Frauen verstanden werden muss.
Zum Argument der Regierung, dass nach dem Urteil "Opuz gegen Türkei" in der Türkei zahlreiche Initiativen ergriffen worden seien, wie zum Beispiel die Verabschiedung eines neuen Gesetzes, das besseren Schutz bieten soll, betont der EGMR, dass für den vorliegenden Fall die Zeit vor den Reformen auschlaggebend ist. Daher seien ausschließlich die rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu beurteilen, die zum Zeitpunkt der Tötung von F. B. bestanden.
Zahlreiche Berichte und statistische Daten bestätigten, dass Gewalt gegen Frauen einschließlich häuslicher Gewalt in der türkischen Gesellschaft in hohem Ausmaß fortbestehe und dass die Zahl der Frauenhäuser im fraglichen Zeitraum unzureichend war.
Der EGMR stellt fest, dass F. B. mehrfach Opfer von Gewalt und Morddrohungen ihres Ehemanns wurde und dass die Behörden darüber unterrichtet waren. Die Behörden ignorierten die Schwere der häuslichen Gewalt und die besondere Verwundbarkeit der Opfer. Dadurch schufen sie ein gewaltförderndes Klima. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Frau schutzlos der Gewalt ihres Mannes ausgesetzt war, unterstrich der EGMR.
Entschädigung nach Artikel 41 EMRK
Der EGMR spricht der Beschwerdeführenden, der Mutter der getöteten Frau, Schmerzensgeld in Höhe von 65.000 Euro zu.
Entscheidung im Volltext: