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Beschwerde-Nr. 61800/08

EGMR, Urteil vom 19.02.2013, Beschwerde-Nr. 61800/08, Gani gegen Spanien

1. Sachverhalt

Leci Gani (L. G.) war unter anderem wegen körperlicher Misshandlung, Entführung und Vergewaltigung seiner früheren Lebenspartnerin N. angeklagt. Im Ermittlungsverfahren war N. in Abwesenheit des geladenen Anwalts der Verteidigung vom Ermittlungsrichter befragt worden; ihre Aussage war Bestandteil der Ermittlungsakte. In der Hauptverhandlung musste die Befragung von N. durch den Staatsanwalt zunächst mehrfach vertagt und nach weiteren Versuchen, auch mit psychologischem und medizinischem Beistand, an einem neuen Verhandlungstag abgebrochen werden. N. gab an, an posttraumatischen Belastungsstörungen zu leiden, wodurch sie nicht aussagen könne. Dies wurde später ärztlich bestätigt. Deshalb war eine weitere Befragung durch Staatsanwaltschaft, Verteidigung und ihren Anwalt nicht möglich. Das Gericht ordnete daraufhin die Verlesung des Protokolls der richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren an. Es gab L. G. die Gelegenheit, seine Version des Sachverhalts zu schildern und die Angaben von N. in Zweifel zu ziehen, wovon er Gebrauch machte.
Das Gericht hat ihn schließlich rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht verglich in seiner Beweiswürdigung die Aussagen von L. G. und N. und stellte eine teilweise Übereinstimmung fest. Es stützte sich auf die Angaben von N. im Ermittlungsverfahren sowie auf ihre übereinstimmende (unvollständige) Aussage in der Hauptverhandlung. Das Gericht war überzeugt, dass N. ihren früheren Lebenspartner  nicht aus Rachegedanken belastet oder den Vorfall vorgetäuscht habe. Es befand ihre Aussage im Ermittlungsverfahren für logisch und ausreichend detailliert, die Einlassung von L. G. sei dagegen widersprüchlich und schwach. Ferner werde ihre Version durch objektive Beweisanzeichen und medizinische Gutachten gestützt.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

L. G. stützte seine Beschwerde vor dem EGMR im Wesentlichen auf Artikel 6 Absatz 1 (Recht auf ein faires Verfahren), 6 Absatz 3 d) (Recht, Fragen an Belastungszeuginnen oder Belastungszeugen zu stellen) und Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sein Recht auf Verteidigung sei dadurch verletzt worden, dass er weder im Ermittlungsverfahren noch in der Hauptverhandlung die Hauptbelastungszeugin habe befragen können. Er sei allein aufgrund der Aussage dieser Zeugin im Ermittlungsverfahren verurteilt worden. Damit sei der einzige Beweis ohne Anwesenheit seines Anwalts schon im Ermittlungsverfahren erwirkt worden. Zudem sei der Grund für die Aussageverweigerung nicht die Belastungsstörung, sondern der Versuch der Zeugin gewesen, Widersprüche zur Aussage im Ermittlungsverfahren zu vermeiden.
Die spanische Regierung, gegen die sich die Beschwerde richtete, hielt diese für unbegründet. Allein die Verurteilung wegen Vergewaltigung habe entscheidend auf der Aussage von N. basiert. Im Übrigen sei der Verteidiger unentschuldigt ihrer Befragung im Ermittlungsverfahren ferngeblieben. Letztlich erkenne auch der EGMR verschiedene (unter Umständen selbst wirtschaftliche) Gründe dafür an, Zeuginnen und Zeugen von ihrer Aussage- und selbst ihrer Anwesenheitspflicht zu entbinden.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, Artikel 6 EMRK, fest.

3.1 Grundsätze zur Befragung von Zeuginnen und Zeugen unter Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d) EMRK

Der EGMR überprüft unter Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 d) (Recht, Fragen an Belastungszeuginnen oder Belastungszeugen zu stellen) EMRK, ob das Verfahren insgesamt – inklusive der Beweiserhebung – fair war. Grundsätzlich erfordere dies, dass alle Beweismittel in einer öffentlichen Verhandlung im Beisein des oder der Beschuldigten gewonnen werden müssen. Hiervon könne es Ausnahmen geben, wenn auch die Rechte der Verteidigung gewährleistet sind.
 
Im vorliegenden Fall hat der EGMR die Verwertbarkeit der Aussage der Belastungszeugin im Ermittlungsverfahren anerkannt. In einem solchen Fall würden die Verteidigungsrechte gewahrt, wenn die angeklagte Person eine adäquate und angemessene Gelegenheit bekomme, eine Belastungszeugin oder einen Belastungszeugen bei der Vernehmung selbst oder im späteren Verfahrensverlauf zu befragen und die Aussage in Zweifel zu ziehen.
Dabei kommt es maßgeblich

1. auf die Qualität und Verlässlichkeit des Beweismittels an, wenn die fragliche Aussage des Zeugen oder der Zeugin das einzige oder das entscheidende Beweismittel für die Verurteilung war,
2. darauf an, ob das Gericht hinreichende Kompensationsmaßnahmen zum Ausgleich für die eingeschränkten Verteidigungsrechte geschaffen hat.

Hinsichtlich der Verlässlichkeit des Beweismittels führt der EGMR aus, dass eine besonders strenge Überprüfung erfolgen müsse, ob das Beweismittel zugelassen werden dürfe, wenn das einzige oder entscheidende Beweismittel die Aussage eines unerreichbaren Zeugen oder einer unerreichbaren Zeugin ist. In einem solchen Fall seien die Anforderungen an die Ausgleichsmaßnahmen erhöht, um ein Gleichgewicht wiederherzustellen. Diese Gegenmaßnahmen müssten auch verfahrensrechtlich sichergestellt werden. Zudem müssten sie ermöglichen, die Verlässlichkeit des entscheidenden Beweismittels zu beurteilen.

3.2 Gesamtabwägung

Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, dass die Aussage der Zeugin zwar entscheidend war, das Gericht aber hinreichende Ausgleichsmaßnahmen getroffen habe. Bei einer Gesamtwürdigung sei demnach kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens anzunehmen.

Alleiniges oder entscheidendes Beweismittel
Der EGMR beschränkt seine Betrachtungen auf die Verurteilung wegen Körperverletzung und Vergewaltigung, da allein in diesen Fällen die Aussage von N. im Ermittlungsverfahren das entscheidende Beweismittel gewesen sei. Der EGMR stellt fest, dass L. G. die Zeugin in der Hauptverhandlung nicht befragen konnte. Er stellt fest, dass L. G. aber im Ermittlungsverfahren Gelegenheit dazu gegeben worden war. Allein dadurch, dass der Verteidiger von L. G., obwohl ordnungsgemäß geladen, nicht zur Vernehmung von N. im Ermittlungsverfahren erschienen war, könne jedoch nicht auf ein unfaires Verfahren geschlossen werden.

Positive Maßnahmen des Staates zur Wahrung der Rechte des Angeklagten
Der EGMR konnte jedoch keinen Sorgfaltspflichtverstoß durch den spanischen Staat feststellen. Dabei stellt er fest, dass das spanische Gericht die ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, um eine Aussage von N. in der Hauptverhandlung zu erwirken und ihre Befragung zu ermöglichen: Es habe psychologischen und medizinischen Beistand angeordnet, die Verhandlung nach zahlreichen Versuchen mehrfach unterbrochen und vertagt sowie ein ärztliches Gutachten eingeholt. Erst als N. beim letzten Verhandlungstermin zusammenbrach und deutlich wurde, dass in einem absehbaren Zeitraum keine Aussage erlangt werden könne, habe das Gericht – unter Berücksichtigung der Untersuchungshaft des Angeklagten – von der Vernehmung abgesehen. Damit habe das spanische Gericht N. nicht unzulässigerweise von der Aussagepflicht befreit.

Schwierigkeiten in der besonderen Konstellation von Strafverfahren wegen Sexualdelikten
Zwar ist sich der EGMR der schwierigen Situation nationaler Gerichte in Strafverfahren wegen Sexualdelikten bewusst, wie er in Anlehnung an "Tyagunova gegen Russland" (Beschwerde-Nr. 19433/07) ausführt. Sexualdelikte geschähen normalerweise im Verborgenen und würden häufig – aus Angst oder aus anderen Gründen – zu spät zur Anzeige gebracht, um die belastenden Beweise vollständig erlangen zu können. Deshalb sei die Aussage des Opfers in vielen Fällen das einzige oder entscheidende Beweismittel. Deren Wahrheitsgehalt und Glaubhaftigkeit könne dann grundsätzlich nur bei einer Befragung der Zeugin beziehungsweise des Zeugen in Zweifel gezogen werden. Im vorliegenden Fall sei gerade dies nicht durchführbar gewesen.

Hinreichende Ausgleichsmaßnahmen und Prüfung der Verlässlichkeit des Beweismittels zur Wahrung der Rechte des Angeklagten
Das spanische Gericht habe jedoch hinreichende Ausgleichsmaßnahmen zur Wahrung der Rechte des Angeklagten geschaffen. Diese Maßnahmen ermöglichten dem Angeklagten, die Glaubhaftigkeit der Aussage von N. infrage zu stellen. Das Gericht habe L. G. über seinen Verteidiger im Ermittlungsverfahren zur Befragung von N. Gelegenheit gegeben. Ferner habe es – nach ärztlicher Bestätigung der Belastungsstörung – mit der Anordnung der Verlesung der ermittlungsrichterlichen Vernehmung das Naheliegende getan. Der Angeklagte habe die Gelegenheit erhalten, der verlesenen Aussage entgegenzutreten, was er auch tat.
Ferner habe das spanische Gericht bei der Urteilsfindung die Aussagen von L. G. und N. sorgfältig verglichen und die Aussage von N. begründet für glaubhaft befunden. Schließlich habe das Gericht alle objektiven Beweisanzeichen verwertet, die wiederum die Aussage von N. stützten und deshalb ihre Verlässlichkeit unterstrichen. Somit konnte die Verurteilung auf ihre Aussage im Ermittlungsverfahren gestützt werden, da diese sich als besonders verlässlich erwiesen hatte.

Entscheidung im Volltext:

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