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Beschwerde-Nr. 57693/10

EGMR, Urteil vom 31.05.2007, Beschwerde-Nr. 57693/10, Kalucza vs. Ungarn

1. Sachverhalt

Matild Kalucza (M. K.) lebte in Ungarn in einer Wohnung, die sie mit ihrem Ehemann gemeinsam erworben hatte. Nach der Scheidung schlossen sie eine Vereinbarung, wonach M. K. auch den Miteigentumsanteil des geschiedenen Partners erwerben sollte.
Seit 2005 hatte sie eine neue Beziehung mit Gy. B. Im Herbst 2005 zeigte sie erstmals einen Gewaltvorfall an und legte ein ärztliches Attest vor. Das Gericht befand, sie habe ihren Partner – der in Notwehr gehandelt habe – angegriffen, und verurteilte sie zu einer Geldbuße.
Im Jahr 2006 bezahlte Gy. B. den Anteil an der Wohnung und erwarb den Miteigentumsanteil durch einen Vertrag mit dem geschiedenen Partner der Frau. Er teilte die Wohnung in zwei getrennte Wohnungen. M. K. trennte sich mehrfach von ihm, kehrte aber immer wieder zurück. Gy. B. besaß Schlüssel zu ihrer Wohnung, übernachtete regelmäßig dort, zog schließlich in die Wohnung ein und meldete sie als Wohnsitz an. Auch nach der Trennung 2007 blieb er gegen den Willen von M. K. in der Wohnung.
Bis 2010 erwirkte M. K. 12 weitere ärztliche Atteste über Prellungen an verschiedenen Körperteilen. Sie erstattete zahlreiche Anzeigen gegen Gy. B. wegen Körperverletzung, Vergewaltigung und Bedrohung. Die Gerichte sprachen Gy. B. vier Mal frei, fünf Mal zog M. K. den Strafantrag zurück oder führte den Prozess nicht als Privatklägerin weiter, sodass das Gericht die Verfolgung einstellte. Zwei Mal verurteilten Gerichte Gy. B. wegen Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe und einer Geldbuße. Auf seine verschiedenen Anzeigen hin sprachen Gerichte M. K. mehrfach wegen (schwerer) Körperverletzung oder sogenannten ungebührlichen Verhaltens schuldig, andere Ermittlungen wurden eingestellt. Gegen beide Beteiligten waren zum Zeitpunkt der Beschwerde weitere Strafverfahren anhängig. Zudem führten sie wegen der Wohnung verschiedene Zivilrechtsstreitigkeiten gegeneinander, die wegen des Rechtsstreits mit dem Erwerber ausgesetzt wurden. Beide tauschten zwischenzeitlich die Schlösser aus. Die Besitzschutzstreitigkeiten vor dem zuständigen Notar gewann M. K. Sie strengte auch erfolglos einstweilige Rechtsschutzverfahren an. Die Polizei verschaffte Gy. B. zweimal wieder Einlass, da er an der Adresse gemeldet war, und nahm Ermittlungen gegen M. K. wegen verbotener Eigenmacht auf.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

M. K. berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2004 auf Artikel 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der Folter) 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Artikel 2, 3, 13 und 8 EMRK seien verletzt, weil die ungarischen Behörden gegen die Pflicht, ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Privatleben zu schützen, verstoßen hätten. Insbesondere hätten die Gerichte ihre Rechtsstreitigkeiten mit Gy. B. über die Wohnung schneller entscheiden müssen. Ein Rechtsbehelf, der zu lange dauere, sei nicht effektiv.
Artikel 14 EMRK sei verletzt worden, da das Verhalten der Behörden darauf zurückgeführt werden könnte, dass sie Roma sei.
Die ungarische Regierung wies die Beschwerde zurück. Sie sei bereits unzulässig, da M. K. den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft habe. Sie habe mehrere Strafverfahren nicht im Privatklageweg weiterbetrieben, obwohl sie nicht bedroht oder eingeschüchtert worden sei. Sie habe auch den Zivilrechtsweg nicht ausgeschöpft, da sie eine einstweilige Verfügung auf alleinige Einräumung des Besitzes an der Wohnung habe erwirken oder ein Verfahren bei Notar oder Gericht hätte anstrengen können. Die Beschwerde sei auch unbegründet, da die Behörden alle angemessenen Maßnahmen getroffen hätten und weitere nicht in Betracht gekommen seien. M. K. habe das Ausmaß der Gewalt übertrieben. Für Gy. B. habe – ebenso wie für sie selbst – die Unschuldsvermutung und der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" gelten müssen.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest, weil die Behörden keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen hätten, um die Beschwerdeführerin effektiv vor dem gewalttätigen Verhalten ihres ehemaligen Partners zu schützen, obwohl sie wiederholt Anzeige gegen ihn erstattet, einstweilige Verfügungen beantragt und Zivilklagen angestrengt hatte.
Einen Rückgriff auf Artikel 2, 3 und 13 EMRK hält der EGMR nicht für erforderlich, da der Unrechtsgehalt nicht über die Verletzungen von Artikel 8 EMRK hinausgehe. Die Beschwerde unter Artikel 14 EMRK weist er als offensichtlich unzulässig zurück, da M. K. nicht nachgewiesen habe, dass sie anders als Menschen in vergleichbarer Situation behandelt worden sei.

3.1 Zulässigkeit

Hinsichtlich der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs führt der EGMR aus, dass Beschwerdeführende zwischen mehreren Rechtsbehelfen wählen dürften, die ihre wesentlichen Beschwerden betreffen. Wenn er oder sie eines dieser Verfahren betrieben habe, sei es nicht erforderlich, ein weiteres mit im Wesentlichem gleichem Ziel zu betreiben ("T. W. gegen Malta", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 25644/94). Zwischen M. K. und Gy. B. seinen noch immer vier Zivilverfahren anhängig. Damit sei die Beschwerdeführerin nicht verpflichtet gewesen, ein weiteres zivilrechtliches Besitzschutzverfahren zu bestreiten.

3.2 Umfang der staatlichen Schutzverpflichtung gegenüber Privatpersonen unter Artikel 8 EMRK (Rz. 58 ff)

Der EGMR bestätigt zunächst seine Rechtsprechung zur verfahrensrechtlichen Staatenverpflichtung unter Artikel 8 EMRK aus den Entscheidungen "X und Y gegen die Niederlande" (Beschwerde-Nr. 8978/80) und "Sandra Janković gegen Kroatien" (Beschwerde-Nr. 38478/05). Danach erfasse der Begriff des Privatlebens unter Artikel 8 EMRK die körperliche und seelische Unversehrtheit einer Person. Der effektive Schutz des Privat- und Familienlebens könne erfordern, dass der Staat Maßnahmen ergreift, die die Verhältnisse von Privatpersonen untereinander betreffen. Demnach sei er verpflichtet, einen angemessenen gesetzlichen Rahmen zum Schutz gegen Gewaltakte Privater aufrechtzuerhalten und in der Praxis anzuwenden. Grundsätzlich liege die Wahl der Mittel dabei im Beurteilungsspielraum des Staates, der besser einschätzen könne, welche Maßnahmen angemessen sind. Ferner weist der EGMR darauf hin, dass gerade bei Zwangsmaßnahmen gegen Privatpersonen ein Interessenkonflikt zwischen dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit der einen Person gegenüber der Achtung der persönlichen Freiheit der anderen bestehe.

Ungestörter Gebrauch der eigenen Wohnung
Der EGMR stellt ohne weitere Erläuterungen fest, dass diese Grundsätze auch auf Situationen angewandt werden können, in denen es um das Recht eines Menschen geht, seine Wohnung frei von gewaltsamen Beeinträchtigungen zu nutzen. Er kommt trotz des umfassenden staatlichen Beurteilungsspielraums zu dem Schluss, dass der ungarische Staat seine Schutzpflicht verletzt hat, da er M. K. nicht vor der Bedrohung geschützt habe, die ihr früherer Lebensgefährte für sie darstellte. Die Beschwerdeführerin habe unfreiwillig ihre Wohnung mit ihrem früheren Partner geteilt, was umso problematischer gewesen sei, da ihre Streitigkeiten in regelmäßige wechselseitige körperliche und verbale Auseinandersetzungen ausgeartet seien. Diese Situation falle unzweifelhaft in den Anwendungsbereich von Artikel 8 EMRK. M. K. habe glaubhaft dargelegt, dass Gy. B. sie über einen längeren Zeitraum angegriffen und ihre körperliche Unversehrtheit bedroht habe. Demnach habe der ungarische Staat die Pflicht gehabt, sie gegen sein gewalttätiges Verhalten zu schützen, und dies unabhängig davon, ob auch sie ihn angegriffen habe. Dies hätten die Behörden – auch in Hinblick auf ihren weiten Beurteilungsspielraum und die anerkannt hohe Bedeutung des Grundsatzes "im Zweifel für den Angeklagten" im Strafverfahren – nicht getan. Trotz zweimaliger Verurteilung sei Gy. B. immer wieder frei gelassen und nur mit einer Geldbuße bestraft worden.  

Umfang der Pflicht der Zivilgerichte in einstweiligen Rechtsschutzverfahren
Auch in der für ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren unangemessenen Länge von über anderthalb Jahren sieht der EGMR eine Verletzung von Artikel 8 EMRK. Ziel eines solchen einstweiligen Verfahrens sei es, den Betroffenen sofortigen oder zumindest zeitnahen Schutz zu gewähren. Auch die Ablehnung einer solchen Maßnahme müsse unverzüglich erfolgen. Erschwerend komme hinzu, dass das ungarische Recht keine Frist vorsieht, innerhalb derer die Gerichte zu entscheiden haben. Ferner habe das Gericht die Ablehnung der einstweiligen Verfügung nicht ausreichend begründet, sondern trotz des Risikos erneuter Gewalttaten nur auf beiderseitiges Verschulden verwiesen.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass alle drei anhängigen Zivilrechtsverfahren (Platzverweis und Aufenthaltsverbot gegen Gy. B. und Rechtsstreit um die Bestimmung der Eigentumsverhältnisse) grundsätzlich geeignet seien, die Ursache des Problems – nämlich den Verbleib von Gy. B. gegen den Willen von M. K. in der Wohnung – aus der Welt zu schaffen. Im Hinblick auf die gewaltsamen Streitigkeiten und die Aussetzung der Verfahrens seit vier beziehungsweise fünf Jahren befindet der EGMR, dass die Gerichte es versäumt hätten, diese Fälle in angemessener Zeit zu entscheiden.

Staatliche Schutzpflicht bei wechselseitigen Angriffen durch (frühere) Partner
Der EGMR führt aus, dass die Gerichte das Ziel des einstweiligen Rechtsschutzes, Betroffene effektiv zu schützen, untergraben, wenn sie einstweilige Verfügungen wegen wechselseitiger Gewalt nicht anordnen würden. Es könne gerade nicht ausgeschlossen werden, dass eine der beiden beteiligten Personen in Notwehr handele. Genau dies habe ein Gericht in diesem Fall festgestellt. Der Verweis auf die Beteiligung des Opfers sei deshalb nicht akzeptabel. Zudem sollten gerade im Falle sich gegenseitig angreifender Parteien einstweilige Verfügungen gegen beide angeordnet werden, um Kontakt zwischen ihnen zu verhindern.

Staatliche Schutzpflicht bei Gewalt durch Lebensabschnittsgefährten
Einen weiteren Erschwerungsgrund sieht der EGMR in dem Umstand, dass sich M. K. als unverheiratete Person nicht auf das speziellere Gesetz zu einstweiligen Verfügungen wegen Gewalt zwischen Verwandten (2009) berufen konnte, sondern eine einstweilige Verfügung nur nach der Strafprozessordnung möglich gewesen sei. Das Gesetz von 2009 gewährt Geschiedenen und vormals eingetragenen Partnern, nicht aber Lebensabschnittsgefährten, den gleichen Schutz wie Verwandten. Auch wenn der EGMR grundsätzlich nicht angreift, dass der Gesetzgeber solchen anerkannten Verbindungen besonderen Schutz zukommen lassen wolle, habe die Beschwerdeführerin sich auf dieses Gesetz und seine Schutzmaßnahmen nicht berufen können.

3.3 Entschädigung

Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin ohne weitere Begründung die beantragten 5.150 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:

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