Beschwerde-Nr. 53519/07
EGMR, Urteil vom 15.05.2012, Beschwerde-Nr. 53519/07, I. G. gegen Moldawien
1. Sachverhalt
Die 14-jährige G. ging im August 2004 mit dem volljährigen R. und einer Freundin aus. G. und R. kannten sich seit Jahren, da R. in der Nachbarschaft der Großmutter der G. lebte. In einer Bar des Nachbardorfes trank G. auf Druck des R., eines Freundes und einer weiteren Freundin etwa 100 ml Wodka. R. brachte alle mit dem Auto zurück, setzte eine Freundin ab und blieb mit G. allein. Er forderte sie auf, sich auf den Rücksitz zu setzen. Die weiteren Geschehnisse sind umstritten. G. behauptet, sie habe sich beim Umsteigen vor Schwindel an das Auto gelehnt. R. habe sie auf dem Rücksitz bedrängt. Als sie sich weigerte, mit ihm zu schlafen, habe er sie mit seinem Körper hinuntergedrückt, ihre Arme mit einer Hand festgehalten und sie mit der anderen ausgezogen. Dann habe er sie etwa zehn Minuten lang vergewaltigt. Sie habe sich wegen des Alkohols nicht wehren können. Sie habe zwar Schmerzen gefühlt, aber wegen der Dunkelheit nicht gesehen, dass sie blutüberströmt war. Danach habe R. gedroht, sie zu töten, wenn sie nicht schweige. Sie habe sich angezogen und kurz danach seien die Freund_innen zurückgekommen.
R. behauptet, es habe keine Anzeichen gegeben, dass G. betrunken gewesen sei. Sie habe freiwillig mit ihm geschlafen und ihre Kleidung selbst ausgezogen. Ihr Alter habe er nicht gekannt.
2. Verlauf des Verfahrens in Moldawien
Nach Anzeige eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren. Bei der forensischen Untersuchung konnten keine Blut- oder Samenspuren mehr gefunden werden. Nach Befragung von G., der Mutter und R. wurde R. wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen angeklagt. Bei einer weiteren Untersuchung einen Monat nach dem Vorfall wurden keine Verletzungen festgestellt. G. wurde durch ärztliches Attest eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert.
Der Staatsanwalt beantragte eine Verlängerung der Ermittlungen zur weiteren Zeugenbefragung. Dennoch nahm ein anderer Staatsanwalt die Anklage gegen R. aus Mangel an Beweisen zurück, stellte das Verfahren gegen ihn ein, ordnete aber gleichzeitig weitere Ermittlungen an. Ein Vorgesetzter annullierte diese Entscheidung und ließ erneut Anklage erheben.
In erster Instanz wurde R. wegen (einverständlichen) Geschlechtsverkehrs mit einer Person unter 17 Jahren unter Alkoholeinfluss verurteilt. Den Tatbestand der Vergewaltigung lehnte das Gericht ab, da es aufgrund einer Zeuginnenaussage keinen Verlust der Steuerungsfähigkeit annahm und bei den ärztlichen Untersuchungen keine Zeichen körperlicher Gewalt erkennbar gewesen waren.
In zweiter Instanz wies das Berufungsgericht die Berufungen zurück, hob das Urteil auf und ordnete aus formalen Gründen die Einstellung der Ermittlungen gegen R. an.
3. Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
G. hat im Jahr 2007 Beschwerde vor dem EGMR erhoben. Sie stützte sich auf Artikel 3 (Verbot der Folter) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Zusätzlich berief sie sich auf Artikel 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde). Moldawien habe seine Verpflichtung verletzt, ihre körperliche Unversehrtheit als Minderjährige und ihr Privatleben zu schützen und effektive Rechtsbehelfe hierfür vorzusehen. Der Verstoß liege in der Rechtsanwendung: Mangels objektiver Beweise für eine Vergewaltigung sei von staatlicher Seite eher dem Angeklagten geglaubt worden. Insbesondere hätten die Behörden versäumt, die Frage des "Einverständnisses" bei Minderjährigen effektiv zu hinterfragen. Ferner liege ein Verstoß gegen Artikel 14 in Verbindung mit Artikeln 3 und 8 EMRK in der Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor, da das moldawische Recht bei sexualisierter Gewalt Beweise für den Widerstand des Opfers verlange.
Die moldawische Regierung hielt die Beschwerde für unzulässig und unbegründet. Insbesondere seien Ermittlungs- und Strafverfahren ordnungsgemäß verlaufen. Anders als im Fall M. C. gegen Bulgarien (Beschwerde-Nr. 39272/98) habe G die Zeug_innen befragen und den Angeklagten konfrontieren können. Dieser sei in erster Instanz auch wegen sexueller Handlungen an Minderjährigen verurteilt worden.
4. Entscheidung des EGMR
Der EGMR sieht Artikel 3 EMRK verletzt, da staatliche Ermittlungen und Strafverfolgung den Anforderungen an dessen verfahrensrechtliche Verpflichtung nicht genügten. Dagegen bezieht er ausdrücklich keine Stellung dazu, ob der Angeklagte zu verurteilen gewesen wäre. Auf den weiteren Vortrag der Beschwerdeführerin G. sowie die anderen Artikel der EMRK geht er in seiner Begründung nicht ein.
4.1 Staatenverpflichtungen aus Artikel 3 EMRK (Rz. 40-45)
Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung betont der EGMR die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 3 EMRK, Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Einzelne auch durch Privatpersonen keinen Misshandlungen ausgesetzt werden. Die Verpflichtung, offizielle Ermittlungen zu führen, sei nicht auf Fälle staatlicher Misshandlungen beschränkt. Dann bestätigt der EGMR seine Entscheidung M.C. gegen Bulgarien, wonach Artikel 3 EMRK die Verpflichtung des Staates enthält, Vorschriften zu erlassen, die die effektive Bestrafung von Vergewaltigung ermöglichen, und diese in der Praxis durch effektive Ermittlungen und Strafverfolgung anzuwenden.
Der EGMR sieht die Pflicht effektiver Rechtsanwendung verletzt. Die Einstellungsentscheidung habe die Staatsanwaltschaft getroffen, obwohl bedeutende Ermittlungsmaßnahmen fehlten. Die zentrale Frage sei letztlich gewesen, ob der Geschlechtsverkehr einverständlich gewesen sei. Die Behörden hätten sich also eine Meinung über die Glaubwürdigkeit der gegensätzlichen Aussagen bilden müssen. Dafür hätten sie Bekannte, wie z.B. Lehrer_innen, Nachbar_innen, Freund_innen, befragen können. Hier hätten die Behörden selbst unterlassen, zwei von drei Personen zu befragen, die an dem Abend mit den Parteien zusammengewesen seien. Schließlich hätten sie ein psychologisches Gutachten einholen können.
Besondere Bedeutung misst der EGMR dem Umstand bei, dass der Staatsanwalt zunächst selbst um Verlängerung für weitere Ermittlungen gebeten habe. Selbst der Staatsanwalt, der sodann den Vorwurf der Vergewaltigung gegen R fallen ließ, habe die Ermittlungen nicht als abgeschlossen betrachtet. Auf die gerichtliche Entscheidung nimmt der EGMR keinen Bezug.
4.2 Entschädigung
Die Beschwerdeführerin beantragte Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro wegen des großen Ausmaßes an Scham, seelischen Schmerzen und Verzweiflung. Zudem sei sie nach dem Freispruch des Angeklagten als Lügnerin dargestellt worden. Moldawien wies den Antrag zurück.
Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin ohne weitere Begründung Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro auf der Grundlage von Artikel 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) zu.
5. Besonderheiten des Falles
Der EGMR entwickelt mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung M.C. gegen Bulgarien fort. Er konkretisiert damit die verfahrensrechtliche Staatenverpflichtung unter Artikel 3 EMRK für den Bereich sexualisierter Gewalt. Insbesondere stellt er Anforderungen an effektive Ermittlungen bei unklarer Beweislage vor allem hinsichtlich des (fehlenden) "Einverständnisses" auf. Dem Urteil kann entnommen werden, dass bei entgegengesetzten Aussagen und Fehlen objektiver Beweise nicht nur die Vernehmung möglicher Tatzeug_innen, sondern u.U. auch die Vernehmung von "Leumundszeug_innen" erforderlich sein kann, um die Glaubwürdigkeit der Beteiligten zu beurteilen. Unklar bleibt allerdings, ob der Kreis der zu Befragenden hier besonders groß war, weil Opfer und mutmaßlicher Täter aus dem gleichen Umfeld stammten und sich schon lange kannten.
Keinen Bezug nimmt der EGMR auf die nationalen Gerichtsentscheidungen, obwohl gerade die Berufungsentscheidung dazu eingeladen hätte. Diese befand nämlich, dass schon bei den Ermittlungen keine Anhaltspunkte für eine Vergewaltigung vorgelegen habe und die Verfolgungsfrist abgelaufen sei, sodass jede weitere Strafverfolgung des R. gegen das Doppelbestrafungsverbot aus Artikel 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK verstoße.
Ferner verpasst es der EGMR, konkrete Rahmenbedingungen für Ermittlungs- und Strafverfahren bei sexualisierter Gewalt abzuleiten. Zudem nimmt er keinen Bezug auf den Vergewaltigungstatbestand selbst, der dem deutschen Recht in groben Zügen ähnelt. Trotz des Vortrags der Beschwerdeführerin lässt er schließlich offen, ob erhöhte Beweisanforderungen bei sexualisierter Gewalt gegen das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts verstoßen.
Entscheidung im Volltext: