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Beschwerde-Nr. 42418/10

EGMR, Urteil vom 24.07.2012, Beschwerde-Nr. 42418/10, D. J. gegen Kroatien

1. Sachverhalt

D. J. arbeitete in Kroatien auf einem Schiff im Loungebereich. Nach ihren Angaben wurde sie dort 2007 von ihrem Kollegen D. Š. vergewaltigt. Dabei habe er ihren Rock und ihre Unterwäsche zerrissen und die Wäsche in der Lounge weggeworfen. D. Š. behauptete, er habe D. J. nicht vergewaltigt, sondern nur zu ihrer Kabine gebracht, da sie sehr betrunken gewesen sei.

D. J. rief vom Schiff aus bei der Polizei an und zeigte eine Vergewaltigung an. Ein Polizeibeamter kam an Bord und fand dort neben D. J. und D. Š. den Eigentümer sowie einige Gäste vor. Die Männer sagten aus, dass D. J. betrunken gewesen sei und keine Vergewaltigung stattgefunden habe. Nach - späterer - Aussage von D. J. habe der Beamte die Männer gefragt, warum sie D. J. nicht ins Meer geworfen hätten. Ferner habe er sich geweigert, den Tatort auf Spuren zu untersuchen und Beweismittel - darunter ihren Rock mit Blutflecken - sicherzustellen. Dies sei nicht erforderlich, da sie ja nur betrunken gewesen sei und keine Vergewaltigung stattgefunden habe.

Im Rahmen einer gynäkologischen Untersuchung stellte ein Arzt einige Wunden, aber keine Verletzungen in der Genitalgegend fest. Weitere ärztliche Gutachten ergaben Verletzungen an den Genitalien, Ausschlag am rückwertigen Oberschenkel und zwei kleinere Wunden am Gesäß sowie eine akute Stressreaktion. D. Š. wurde verhaftet und vom Ermittlungsrichter vernommen. Er stritt die Tat ab. Der Ermittlungsrichter stellte schriftlich fest, dass "sich aus der Anzeige und der Akte mit Gewissheit ergibt, dass die Verletzte zu keinem Zeitpunkt allein mit dem Verdächtigen gewesen ist". Dennoch entschied ein Gericht, Ermittlungen aufzunehmen. D. J. brachte auf eigene Initiative ihren Rock zur Polizei, die ihn nicht zur Analyse gab. Die anderen Kleidungsstücke wurden analysiert, ohne dass eine Verbindung der Spuren zu D. Š. hergestellt werden konnte. Mehrere Zeuginnen und Zeugen wurden befragt. Zwei gaben an, dass D. Š. geäußert hätte, er wolle Sex mit D. J. Ein Zeuge berichtete, eine weitere Zeugin habe die Unterwäsche von D. J. auf dem Schiff gefunden und weggeworfen. Erst Wochen später wurde D. J. befragt. Sie gab unter anderem an, dass sie den Fund der Unterwäsche umgehend telefonisch der Polizei gemeldet habe, diese aber aufgelegt habe. Sie stellte einen Befangenheitsantrag gegen den Ermittlungsrichter, der nicht bearbeitet wurde. Der Gynäkologe sagte aus, dass er die anderen Verletzungen nicht erfasst habe, weil sie nicht in den Bereich eines Gynäkologen gehörten. Der Ermittlungsrichter und ein Arzt schlossen Monate später aus den widersprüchlichen Gutachten, dass die Verletzungen in dem späteren Gutachten nicht von der Tat stammen könnten.

Die staatlichen Ermittlungen wurden 2008 eingestellt. D. J. übernahm nach kroatischem Recht die Strafverfolgung und erhob Anklage. 2011 wies ein Gericht ihren Antrag auf Prozesskostenhilfe zurück. Das Strafverfahren sei für D. J. nicht von essenzieller Wichtigkeit, da sie nicht gleichzeitig auch eine Entschädigungsklage eingereicht habe. Mangels Prozesskostenhilfe zog D. J. ihre Anklage zurück. Das Strafgericht stellte das Verfahren daraufhin ein.

Der auf dem Schiff ermittelnde Beamte sowie ein weiterer wurden bereits 2007 von einem Disziplinargericht auf Beschwerde von D. J. beim Innenministerium hin wegen einer schweren Amtspflichtverletzung zu einer Geldbuße verurteilt. Über das Verhalten des Ermittlungsrichters und die späteren Ermittlungen traf das Urteil keine Feststellungen.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

D. J. berief sich 2011 in ihrer Beschwerde vor dem EGMR auf Artikel 3 (Verbot der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) sowie Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Diese Rechte seien zum einen verletzt worden, da die kroatischen Strafgesetze keinen hinreichenden Schutz gegen Vergewaltigungen böten. Insbesondere stellten sie nicht jeden nicht-einverständlichen Sexualakt unter Strafe. Der Vergewaltigungstatbestand erfordere nämlich die Anwendung von Gewalt oder Drohungen durch den Täter. Nach den Vorgaben der Rechtsprechung müsse zudem das Opfer Widerstand geleistet haben. Schließlich sei das (damals geltende) kroatische Prozessrecht unzureichend gewesen, da kein Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestanden habe.

Zum anderen verstoße die Rechtsanwendung gegen Artikel 3, 8 und 13 EMRK, da die Ermittlungen des kroatischen Staates nicht vollständig, effektiv und unabhängig gewesen seien und D. J. deswegen kein Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden hätte. Die Ermittlungen seien zwischenzeitlich zwei Jahre und acht Monate lang nicht fortgeführt worden. Die Polizeibeamten seien voreingenommen gewesen und hätten sie respektlos behandelt. Sie hätten keine Ortsbesichtigung vorgenommen, die Spuren nicht gesichert und ihren Rock nicht forensisch analysieren lassen. Sie sei erst spät befragt worden und habe keinen Hinweis auf psychologische Hilfe erhalten. Dagegen habe man unnötigerweise ihren Vater über sein Verhältnis zu ihr befragt. Die gynäkologische Untersuchung sei unvollständig gewesen; das psychiatrische Gutachten beruhe auf medizinischen Gutachten von 2001 zu früherem Medikamentenkonsum, die nicht mit dem Vorfall zusammenhingen, und die der Ermittlungsrichter auf eigene Initiative angefordert habe, um sie in schlechtem Licht erscheinen zu lassen. Auch sonst sei der Ermittlungsrichter nicht unparteilich gewesen. Er habe sich ausschließlich auf das (vermeintliche) Verhalten der Beschwerdeführerin, insbesondere ihre Alkoholisierung, gestützt, wichtige Tatumstände außer Betracht gelassen und sogar Schlussfolgerungen gezogen, die im Gegensatz zur Aussage des Tatverdächtigen gestanden hätten.

Ferner stützte D. J. ihre Beschwerde auf Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Dieser sei verletzt worden, da die kroatischen Behörden sie bei den Ermittlungen wegen ihres Geschlechts diskriminiert hätten. Die meisten Opfer sexualisierter Gewalt seien Frauen. Kroatischen Strafverfolgungsbehörden fehle es an Sensibilität und speziellen Kenntnissen in diesem Bereich; zudem gebe es keine Verfahrensregelungen für Fälle sexualisierter Gewalt. Der Ermittlungsrichter habe seine Vorurteile gegenüber der Beschwerdeführerin zum Ausdruck gebracht, indem er allein auf ihre Alkoholisierung verwies und andere Umstände, auch die Alkoholisierung des Tatverdächtigen, außer Betracht ließ.

Die kroatische Regierung wies die Beschwerde zurück. Die Ermittler hätten alle zur Verfügung stehenden Ermittlungsmaßnahmen ergriffen und das Verfahren zu Recht aus Mangel an Beweisen eingestellt. Die Beschwerdeführerin habe widersprüchliche Angaben gemacht, sodass ein psychiatrisches Gutachten eingeholt werden musste.

Ferner sei die Beschwerde bereits unzulässig: D. J. fehle es an der Opfereigenschaft (Beschwer) gemäß Artikel 34 EMRK, da die ermittelnden Beamten bereits von einem Disziplinargericht verurteilt worden seien. Weiterhin habe sie den innerstaatlichen Rechtsweg in Kroatien nicht ausgeschöpft, da sie das Verfahren als Anklägerin hätte weiterbetreiben können.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Gewährleistung von Artikel 3 und 8 EMRK im Bereich der Rechtsanwendung fest. Kroatien habe gegen seine Verpflichtung verstoßen, in Vergewaltigungsfällen zu ermitteln und die Täter zu bestrafen sowie das Privatleben der Beschwerdeführerin zu schützen.

Der EGMR hielt eine Prüfung der Artikel 13 und 14 EMRK nicht für erforderlich, da die Vorwürfe bereits im Rahmen der Artikel 3 und 8 EMRK ausreichend behandelt worden seien.

3.1 Grundsätze zur staatlichen Ermittlungspflicht bei Vergewaltigungen

Nach Ansicht des EGMR hat Kroatien gegen die Verpflichtung zu effektiven Ermittlungen verstoßen. Zunächst bestätigte der EGMR die Grundsätze seiner Rechtsprechung zur staatlichen Ermittlungs- und Bestrafungspflicht bei Vergewaltigungen durch ein umfangreiches Zitat aus seiner Entscheidung "M.C. gegen Bulgarien" (Beschwerde-Nr. 39272/98) und verwies auch auf "Aydin gegen die Türkei" (Beschwerde-Nr. 23178/94). Danach enthielten Artikel 3 und 8 EMRK die Verpflichtung, Strafrechtsvorschriften zu schaffen, die Vergewaltigungen effektiv unter Strafe stellten, und diese in der Praxis durch effektive Ermittlungen und Strafverfolgung anzuwenden.

Der EGMR ergänzte, dass zwar die Staatenverpflichtungen bei staatlichen und nicht-staatlichen Tätern nicht unbedingt identisch seien, jedoch bestünden die gleichen Anforderungen an offizielle Ermittlungen. Effektive Ermittlungen müssten geeignet sein, soweit wie möglich den Sachverhalt aufzuklären und zur Identifizierung und Bestrafung der Täter zu führen. Die Behörden müssten alle vorhandenen Schritte unternehmen, um Beweise (inkl. Vernehmungen von Zeuginnen und Zeugen sowie forensische Beweismittel), in Bezug auf den Vorfall zu erheben. Ferner müssten die Ermittlungen umgehend und in angemessener Geschwindigkeit geführt werden. Jedes Ermittlungsdefizit, das die Feststellung der Verletzungsursache oder die Identifizierung der Täter unmöglich mache, stelle einen Verstoß dar. Dabei achte der EGMR gemäß Artikel 3 EMRK besonders auf Verzögerungen bei der Eröffnung von Ermittlungen oder Befragungen beziehungsweise auf die Länge der Vorermittlungen ("Denis Vasilyev gegen Russland", Beschwerde-Nr. 32704/04; "Stoica gegen Rumänien", Beschwerde-Nr. 42722/02).

Der EGMR bestätigte weiterhin, dass es die vorrangige verfahrensrechtliche Pflicht des Staates nach Artikel 3 und 8 EMRK sei, Straftaten gegen die Person durch angemessene gesetzliche und verwaltungstechnische Rahmenbedingungen zu verhindern. Dies umfasse auch einen Strafverfolgungsapparat für die Verhinderung, Beseitigung und Bestrafung von Verstößen gegen diese Vorschriften ("Sandra Janković gegen Kroatien", Beschwerde-Nr. 38478/05 und "Beganović gegen Kroatien", Beschwerde-Nr. 42722/02).

Der EGMR untersuchte ferner, ob die angegriffenen Regelungen, Praktiken und besonders die Einhaltung und Anwendung der Verfahrensregelungen durch die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden so große Defizite aufwiesen, dass von einer Verletzung der Staatenverpflichtungen gesprochen werden könne.

Auswirkung einer disziplinarrechtlichen Verurteilung auf die Opfereigenschaft (Beschwer) unter der EMRK (Artikel 34 EMRK)
Der EGMR setzte sich umfassend mit dem Verlust der Opfereigenschaft (Beschwer) unter Artikel 34 EMRK durch die disziplinarische Verurteilung des ursprünglichen Ermittlungsbeamten auseinander. Dies betrachtete er wegen der engen Verschränkung mit inhaltlichen Problemen als begründet.

Unter ausführlicher Berufung auf seine Rechtsprechung stellte der EGMR klar, dass es in erster Linie den nationalen Behörden obliege, Verletzungen der EMRK zu beseitigen. Der Opferstatus sei aber nur dann nicht mehr gegeben, wenn der Staat die Verletzung der Rechte aus der EMRK ausdrücklich oder dem Grunde nach anerkenne und Wiedergutmachung leiste (siehe "Amuur gegen Frankreich, Beschwerde-Nr. 19776/92; Dalban gegen Rumänien, Beschwerde-Nr. 28114/95). Dagegen greife das Beschwerdeverfahren vor dem EGMR nur untergeordnet, da die EMRK den Staaten nicht vorschreibe, wie sie die Verpflichtungen zu erfüllen hätten. Die staatlichen Behörden könnten selbst am besten entscheiden, welche Mittel zur Umsetzung geeignet seien, da sie durchgehend mit den entscheidenden Kräften des Staates und mit seinen Ressourcen befasst seien (siehe "Chapman gegen das Vereinigte Königreich" (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 27238/95; "Sisojeva und andere gegen Lettland" (Große Kammer), Beschwerde-Nr. 28114/95).

Der EGMR stellte fest, dass das Urteil des Disziplinargerichts den Anforderungen an die Feststellung einer Verletzung genüge. Das Gericht habe in seinem Urteil klar darauf hingewiesen, dass die beiden beteiligten Beamten keine ausreichenden Ermittlungen geführt hätten und dass die Beweise am Tatort nicht vollständig erhoben worden seien. Ferner sehe das nationale Recht die Möglichkeit vor, bei staatlichen Ermittlungsfehlern Entschädigungen zu beantragen. Das Urteil des Disziplinargerichts habe dazu eine gute Ausgangslage geboten, da es eine schwerwiegende Amtspflichtverletzung festgestellt habe. Aus Sicht des EGMR stellte die Kombination aus der staatlichen Anerkennung und der Entschädigungsmöglichkeit eine adäquate Wiedergutmachung des Verhaltens der Polizei in der Anfangsphase der Ermittlungen dar.

Fortbestand der Opfereigenschaft wenn ursprüngliche Ermittlungsdefizite fortwirken sowie bei späteren Ermittlungsfehlern
Der EGMR stellte aber fest, dass dennoch keine effektiven Ermittlungen vorlägen. Die anfänglichen Mängel hätten Auswirkungen auf die Effektivität der Gesamtermittlung gehabt, sodass dennoch eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Verpflichtung vorliege. Gegen Ende des Urteils führte er ohne weitere Begründung aus, dass die von der Beschwerdeführerin angeführten objektiven Mängel (fehlende forensische Analyse des Rockes; fehlende Ortsbesichtigung und Spurensicherung; unzureichende Versuche, einen Zeugen zu vernehmen, der sehr wahrscheinlich Relevantes wusste; fehlende Antwort der Behörden hinsichtlich des Befangenheitsantrages von D. J. gegen den Ermittlungsrichter) die passive Herangehensweise der Behörden an die Ermittlungen zeigten.

Anforderungen an die Unparteilichkeit des Ermittlungsrichters
Der EGMR setzte sich ausführlich mit dem Verhalten des Ermittlungsrichters auseinander. Er stellte klar, dass die Ermittlungen nicht immer schon dann parteilich seien, wenn ein Ermittlungsrichter anfänglich keinen Anlass für Ermittlungen sähe. Vielmehr müsse dies im Einzelfall geprüft werden. Der EGMR betonte jedoch, dass er im Bereich der Strafgerichtsbarkeit dem Anschein der (Un-)Parteilichkeit große Bedeutung beimesse. In einem demokratischen System gehe es letztlich um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Gerichte. Dies gelte ebenso für Angeklagte wie für Verletzte in Strafverfahren. Demnach könne die Behauptung, dass das Opfer einer Vergewaltigung Alkohol getrunken habe, ebenso wie jeder andere Umstand aus dem Verhalten oder der Persönlichkeit des Opfers die Behörden nicht von ihrer Ermittlungspflicht befreien.

Nach Auffassung des EGMR weckten die Äußerungen des Ermittlungsrichters, insbesondere die Art und Weise ihrer Formulierung sowie die Herausstellung des Opferverhaltens, den Anschein, dass der Richter die Ermittlungen möglicherweise nicht unparteilich und objektiv weitergeführt hätte.

3.2 Entschädigung

Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin ohne weitere Begründung eine Entschädigung in Höhe von 12.500 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:

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