Beschwerde-Nr. 38058/09
EGMR, Urteil vom 14.06.2011, Beschwerde-Nr. 38058/09, Osman gegen Dänemark
1. Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin wurde 1987 in Somalia geboren und lebte seit ihrem siebten Lebensjahr mit ihren Eltern und vier Geschwistern in Dänemark. Sie ging in Dänemark zur Schule und spricht Dänisch. In dieser Zeit besaß sie eine Aufenthaltserlaubnis. 2003, als die Beschwerdeführerin 15 Jahre alt war, entschied ihr Vater, sie nach Kenia zu bringen. Die junge Frau und ihre Mutter gingen hierbei davon aus, dass es sich nur um eine Kurzreise handeln würde. Tatsächlich aber musste die Beschwerdeführerin im Hagadera-Flüchtlingslager in Kenia ihre schwer kranke Großmutter rund um die Uhr pflegen.
Nachdem sie zweieinhalb Jahre lang ihre Großmutter gepflegt hatte, wollte die zum damaligen Zeitpunkt 17-jährige Beschwerdeführerin im Jahr 2005 zu ihrer Mutter nach Dänemark zurückkehren.
Die dänische Einwanderungsbehörde verweigerte die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis. Nach den einschlägigen Vorschriften des dänischen Aufenthaltsrechts erlischt eine Aufenthaltserlaubnis bei einem Aufenthalt außer Landes von mehr als 12 Monaten.
Auch käme eine Aufenthaltserlaubnis aus Gründen der Familienzusammenführung nicht in Betracht. Als die Beschwerdeführerin mit 15 Jahren Dänemark verließ, sah das dänische Aufenthaltsrecht eine Familienzusammenführung bei Kindern bis 18 Jahre vor. Zwischenzeitlich hat der dänische Gesetzgeber diese Grenze jedoch auf 15 Jahre herabgesetzt.
Die Einwanderungsbehörde war weiterhin der Auffassung, dass auch keine besonderen Umstände des Einzelfalles vorlagen, welche die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis begründen könnten.
2. Verlauf des Verfahrens in Dänemark
Die Beschwerdeführerin legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel ein. Nach ihrer Aussage war es nicht ihre freie Entscheidung gewesen, Dänemark zu verlassen, sondern die ihrer Eltern.
Das dänische Einwanderungsministerium bestätigte 2007 die Entscheidung der Einwanderungsbehörde, die Erlaubnis nicht zu erneuern. Zur Begründung führte es unter anderem aus, dass die Eltern als Erziehungsberechtigte rechtmäßig Entscheidungen über die persönlichen Umstände und den Aufenthalt ihrer Tochter treffen können.
Eine hiergegen erhobene Klage vor dem Stadtgericht Stockholm blieb erfolglos. Insbesondere verneinte das Gericht einen Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
Diese Entscheidung wurde von der Berufungsinstanz, dem dänischen Östlichen Landgericht, aufrechterhalten. Eine Revision zum dänischen Obersten Gerichtshof wurde nicht zugelassen.
3. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
2009 legte die Beschwerdeführerin vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Beschwerde ein. Sie macht eine Verletzung ihrer Rechte aus Artikel 3 (Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung) und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Weigerung Dänemarks, ihre Aufenthaltserlaubnis wiederherzustellen, geltend.
Die dänischen Behörden hätten unzureichend berücksichtigt, dass die Beschwerdeführerin in Dänemark aufgewachsen ist, Dänisch spricht und der Aufenthalt in Dänemark somit einen essenziellen Bestandteil ihres Privat- und Familienlebens ausmacht.
Darüber hinaus erfülle die zwangsweise Umsiedlung der damals minderjährigen Beschwerdeführerin durch ihren Vater zur Pflege der Großmutter den Straftatbestand des Menschenhandels im Sinne von Artikel 4(a) und 4(c) der Konvention gegen Menschenhandel des Europarates. Die dänischen Behörden träfen daher besondere Verpflichtungen, die Interessen der Beschwerdeführerin als Opfer von Menschenhandel zu schützen. Insbesondere folge hieraus eine staatliche Pflicht, die Aufenthaltserlaubnis der jungen Frau wiederherzustellen, ihr die Fortsetzung der Ausbildung zu ermöglichen sowie die Familienzusammenführung mit ihrer Mutter sowie ihren Geschwistern sicherzustellen. Diesen Verpflichtungen seien die dänischen Behörden nicht nachgekommen.
4. Entscheidung des EGMR
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat der Beschwerde stattgegeben. Dänemark hat das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Artikel 8 EMRK verletzt, indem es das Interesse der Beschwerdeführerin am Zusammenleben mit ihrer Mutter in ihrem gewohnten sozialen Umfeld in Dänemark bei der Entscheidung über die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Der Begriff des Privatlebens umfasse die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Migranten beziehungsweise Migrantinnen und der Gemeinde, in der sie leben. Artikel 8 EMRK schütze das Recht, soziale Beziehungen zu anderen Menschen und der Außenwelt zu entwickeln. Die Vorschrift enthalte dabei sowohl eine Abwehrfunktion gegen den Staat als auch positive Handlungspflichten des Staates.
Der Gerichtshof hat offen gelassen, ob die Nichterteilung der Aufenthaltserlaubnis einen staatlichen Eingriff in die Abwehrfunktion des Menschenrechtes oder aber das Unterlassen einer positiven Verpflichtung darstellt.
Die Nichterteilung der Aufenthaltserlaubnis stelle einen Eingriff in den Schutzbereich von Artikel 8 EMRK dar. Die einschlägigen Vorschriften des dänischen Aufenthaltsrechtes könnten den Eingriff nicht rechtfertigen. Zwar verfolgten diese Normen mit der Migrationskontrolle einen legitimen Zweck. Der Gerichtshof hält auch die Herabsetzung der Altersgrenze für eine Familienzusammenführung auf 15 Jahre dem Grunde nach für zulässig. Der dänische Gesetzgeber bezweckt hierdurch, Eltern mit Migrationshintergrund davon abzuhalten, ihre Kinder zwecks Umerziehung zu den Werten ihres Herkunftslandes außerhalb Dänemarks aufwachsen zu lassen (sogenannte "re-education journeys").
Die Entscheidung sei in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Einzelfalles aber unverhältnismäßig. Da die Beschwerdeführerin einen maßgeblichen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Dänemark verbracht habe, könnten nur schwerwiegende Gründe eine Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen. Insgesamt habe es der Staat versäumt, einen schonenden Ausgleich zwischen dem staatlichen Interesse an Migrationskontrolle und den Menschenrechten der jungen Frau herzustellen.
Der Gerichtshof stellt klar, dass das elterliche Erziehungsrecht einen fundamentalen Bestandteil des Rechts auf Familienleben darstellt. Dies umfasst grundsätzlich auch das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen und beinhaltet somit Einschränkungen der Freiheit des Kindes. Dennoch müssen staatliche Stellen unter Respektierung des elterlichen Erziehungsrechtes auch die Interessen und Rechte des Kindes sicherstellen.
Zum Aspekt des Menschenhandels stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin es versäumt habe, gegenüber den staatlichen Behörden darauf hinzuweisen, dass sie möglicherweise ein Opfer von Menschenhandel ist. Mangels anderer Anhaltspunkte hätten die dänischen Behörden somit keine Anhaltspunkte gehabt, um die Frage des Menschenhandels zu berücksichtigen.
Soweit die Beschwerde auf eine Verletzung des Verbotes von Folter und unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) sowie weitere Bestimmungen der EMRK gestützt war, hat der Gerichtshof die Klage für unzulässig erklärt, da die Beschwerdeführerin nationale Rechtsmittel nicht ausgeschöpft hat.
Entscheidung im Volltext: