Beschwerde-Nr. 35810/09
EGMR (Große Kammer), Urteil vom 28.01.2014, Beschwerde-Nr. 35810/09, O’Keeffe gegen Irland
1. Sachverhalt
Louise O’Keeffe (L. O’K.), war in den 1970er-Jahren durch einen Lehrer (L. H.) ihrer katholischen Grundschule sexuelle Gewalt angetan worden. Von Januar bis Mitte 1973 wurde sie Opfer von ungefähr 20 sexuellen Übergriffen. Auch andere Kinder waren betroffen. 1971 und 1973 erfolgten Beschwerden gegen L. H. wegen Misshandlungen anderer Kinder bei der Schulleitung. Die Schulleitung unternahm jedoch weder selbst etwas noch leitete sie die Beschwerden an die Polizei, das zuständige Ministerium oder eine andere staatliche Behörde weiter.
Zum damaligen Zeitpunkt wurden kirchliche Schulen in Irland vom Staat anerkannt und finanziert, die Geschäftsführung und Verwaltung hatte allerdings die Kirche inne.
In den 90er-Jahren brachte eine andere ehemalige Schülerin gegen denselben Lehrer eine Beschwerde vor. In dem Verfahren sagte auch L. O’K. aus. Der Lehrer wurde angeklagt wegen insgesamt 386 Fällen sexueller Gewalt an 21 Schüler_innen über einen Zeitraum von zehn Jahren. 1998 bekannte er sich schuldig und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.
Erst nach diesem Verfahren realisierte die Beschwerdeführende, dass ihre über Jahrzehnte andauernden psychischen Probleme einen Zusammenhang mit dem damaligen Missbrauch haben. 1998 beantragte sie beim Criminal Injuries Compensation Tribunal (CICT) eine Entschädigung. Sie reichte auch vor dem irischen High Court eine Zivilklage ein gegen L. H., gegen das irische Bildungsministerium, die irische Generalstaatsanwaltschaft und die Republik Irland und verlangte Schadenersatz für die körperlichen Verletzungen infolge der sexuellen Gewalt durch ihren ehemaligen Lehrer. Der High Court verpflichtete diesen zur Zahlung einer Entschädigung, bestritt aber die Verantwortlichkeit des Staates mit der Begründung, dass die Kirche für die Führung der Schulen verantwortlich war. Der Supreme Court bestätigte 2008 die Entscheidung, dass der Staat nicht verantwortlich sei.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
L. O’K. legte 2009 vor dem EGMR die Beschwerde ein, dass der Staat sie nicht vor der sexuellen Gewalt durch einen Lehrer geschützt habe und sie über kein wirksames Rechtsmittel gegen den Staat verfügt habe. Sie stützte sich in diesem Zusammenhang auf Artikel 3 (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) alleine und in Verbindung mit Artikel 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde). Darüber hinaus berief sie sich auf Artikel 8 (Recht auf Achtung der Privatsphäre), Artikel 2 1. Protokoll EMRK (Recht auf Bildung), alleine und in Verbindung mit Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Die Regierung bestritt nicht, dass L. O’K. von ihrem Lehrer sexuelle Gewalt erfahren hatte und auch nicht, dass diese Misshandlung in den Anwendungsbereich von Artikel 3 EMRK fiel. Die Regierung behauptete jedoch, dass die Beschwerde nicht zulässig sei. Zum einen hätte die Beschwerdeführende den Rechtsweg nicht ausgeschöpft und zum anderen sei ihre Opfereigenschaft durch die Zahlung der Entschädigung entfallen. Zum Recht auf wirksame Beschwerde sagte die Regierung, die Betroffene hätte eine Beschwerde gegen den_die Schulpatron_in, die Diözese, den_die Schulleiter_in oder den_die De-facto-Schulleiter_in einreichen müssen.
Am 20. September 2012 gab die ursprünglich berufene Kammer des EGMR die Rechtssache wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung beziehungsweise möglicher Abweichung von früheren Urteilen gemäß Artikel 30 EMRK an die Große Kammer ab.
Drittinterventionen (Rz. 137 ff.)
Der EGMR erhielt zwei Drittinterventionen. Die Nationale Menschenrechtsinstitution Irlands, die Irish Human Rights Commission (IHRC) betonte vor allem, dass die positive Verpflichtung aus Artikel 3 EMRK auch die Verpflichtung umfasse, das Grundschulsystem so zu gestalten, dass die Kinder vor Misshandlungen geschützt werden. Dieser Verpflichtung könne sich der Staat nicht durch Delegieren der Aufgaben an nicht-staatliche Einrichtungen entbinden. Die Nichtregierungsorganisation European Centre for Law and Justice (ECLJ) hielt dagegen, dass der Staat nicht zur Verantwortung gezogen werden könne, da sich seine Rolle nur auf die Finanzierung der Schulen und die Kontrolle der Qualität des Unterrichts beschränkt habe. Der Staat habe seine positive Verpflichtung zum Schutz der Kinder vor Misshandlungen durch damals verfügbare zivilrechtliche und strafrechtliche Verfahren erfüllt.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof stellt eine Verletzung der Artikel 3 und 13 EMRK fest. Angesichts der Feststellung einer Verletzung von Artikel 3 EMRK befand er es als nicht notwendig, die Beschwerde in Hinblick auf Artikel 8 EMRK und Artikel 2 1. Protokoll EMRK in Verbindung mit Artikel 14 EMRK zu prüfen.
3.1. Zulässigkeit – Rz. 98 ff
Am 26. Juni 2012 bejahte die Kammer die Zulässigkeit der Beschwerde. Die Große Kammer bestätigte in dem vorliegenden Urteil die Auffassung der Kammer. Zur Rechtswegerschöpfung erklärte der EGMR, dass, wenn verschiedene Rechtsmittel mit dem gleichen Ziel zur Verfügung stehen, es dem_der Einzelnen frei steht, sich für ein Rechtsmittel zu entscheiden. Die Beschwerdeführende war nicht verpflichtet, sich in ihrer Klage vor dem EGMR auf die gleiche rechtliche Argumentation zu stützen wie vor den nationalen Gerichten (Rz. 110 f.).
Zur Opfereigenschaft befand der EGMR, dass die Betroffene als Opfer einer Verletzung angesehen werden kann. Ihre Beschwerde bezieht sich nämlich auf die Verletzung der Pflicht des Staates, Personen vor Misshandlung zu schützen und ihnen ein wirksames Rechtsmittel zur Verfügung zu stellen. Der Staat hat weder die Konventionsverletzung anerkannt noch eine angemessene Entschädigung geleistet. Die Verfahren vor dem Criminal Injuries Compensation Tribunal und dem High Court betrafen nicht die Staatshaftung (Rz. 114 ff).
3.2. Verletzung der staatlichen Schutzpflichten, Kinder vor Missbrauch zu schützen (Artikel 3) – Rz.143 ff
Der EGMR hielt zunächst fest, dass Artikel 3 EMRK auch die staatliche Pflicht beinhaltet, besonders verletzliche Gruppen wie Kinder vor Übergriffen Privater zu schützen, insbesondere im Grundschulwesen. Diese Pflicht trifft den Staat aber nur, wenn er die Gefährdung der_des Betroffenen hätte erkennen können.
Diese Verpflichtung besondere Maßnahmen zu ergreifen, um Kinder zu schützen, habe bereits in 1970er-Jahren existiert, was die internationalen Menschenrechtsdokumente (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) und die ersten Urteile ("Marckx gegen Belgien", "X und Y gegen die Niederlande")/typo3/ des EGMR bestätigten.
Zum Inhalt positiver Schutzpflichten führte der EGMR aus, dass diese zum einen wirksame strafrechtliche Bestimmungen und zum anderen Aufdeckungs- und Berichtsmechanismen für die wirksame Umsetzung der einschlägigen Strafgesetze umfassen.
Der Staat kann sich nicht von seiner Verantwortlichkeit in den Schulen befreien, indem er seine Pflichten an private Organisationen oder Einzelpersonen delegiert, ohne ein System ausreichender und wirksamer Schutzmechanismen zu gewährleisten.
Der EGMR betonte, dass die Behörden weder von der Gefahr der sexuellen Gewalt gegenüber L. O’K. wussten noch hätten wissen müssen. Entscheidend sei aber, ob der irische Staat in den frühen 1970er-Jahren wusste oder hätte wissen müssen, dass ein solches Risiko in kirchlichen Grundschulen grundsätzlich existierte. Der EGMR befand, dass der irische Staat aufgrund der großen Zahl an Beschwerden gegen Grundschullehrer_innen Anfang der 70er-Jahre hätte wissen müssen, dass grundsätzlich die Gefahr sexueller Gewalt gegenüber Minderjährigen während der Schulzeit bestand. Deswegen war der Staat verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, zum Beispiel Aufsichts- oder Beschwerdemechanismen einzurichten.
Der EGMR betonte, dass zu dieser Zeit keine gesetzlichen Regelungen vorhanden waren, um die sexuelle Gewalt aufzudecken und zu melden. Beispielsweise kontrollierten Schulinspektor_innen die Qualität des Unterrichts und der Schulleistung. Sie beschäftigten sich aber nicht mit der Behandlung von Kindern durch Lehrer_innen. Es gab auch keine Möglichkeit für Kinder oder Eltern, sich direkt bei einer_einem Schulinspektor_in zu beschweren. Darüber hinaus waren die Schulen nicht verpflichtet, die gemeldeten Missbrauchsvorwürfe an das zuständige Departement oder die Polizei weiterzuleiten. Aus diesen Gründen befand der EGMR, dass Irland seine positive Verpflichtung zum Schutz der Beschwerdeführenden vor sexuellen Misshandlungen verletzt hat.
3.3. Verpflichtung zur effektiven Untersuchung – Rz. 170 ff.
Das Versäumnis des Staates, die Beschwerden der Betroffenen über die erlittenen Misshandlungen ordnungsgemäß zu untersuchen, kann auch eine Verletzung verfahrensrechtlicher Pflichten aus Artikel 3 EMRK begründen. Im vorliegenden Fall befand jedoch der EGMR, dass, nachdem der Polizei eine Anzeige wegen sexueller Gewalt von L. H. gegenüber einem anderen Kind der Schule gemeldet worden war, der Staat die Vorwürfe untersucht habe und der Täter verurteilt und inhaftiert wurde. Daher ist Artikel 3 in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht verletzt.
3.4. Recht auf wirksame Beschwerde – Rz. 175 ff.
Die Verletzung von Artikel 13 EMRK begründend stellte der EGMR fest: die vorgeschlagenen zivilrechtlichen Rechtsmittel gegen nicht-staatliche Akteure stellten im vorliegenden Fall kein wirksames Rechtsmittel für die Beschwerdeführende im Sinne des Artikels 13 EMRK dar, da mit den Rechtsmitteln die Haftung des Staates nicht geprüft werden konnte. Ebenso betraf das Strafverfahren gegen L. H. ausschließlich die Verantwortlichkeit des Täters. Zivilrechtliche Rechtsbehelfe gegen den Staat hätten sich auch als unwirksam erwiesen. Daher sei für die Beschwerdeführende kein wirksamer Rechtsbehelf verfügbar gewesen.
3.5 Entschädigung nach Artikel 41 EMRK
Der EGMR sprach L. O’K. eine Entschädigung in Höhe von 30.000 Euro für materiellen und immateriellen Schaden und 85.000 Euro für Kosten und Auslagen zu.
3.6 Abweichende Meinungen
In den abweichenden Meinungen wurde vor allem kritisiert, dass der EGMR die Erfüllung der staatlichen positiven Verpflichtungen nach den heutigen Standards beurteilt habe. Zum anderen beanstandeten die Richter_innen, dass die Annahme, dass sich Irland der Gefahr der sexuellen Gewalt gegenüber Minderjährigen während der Schulzeit hätte bewusst sein müssen, auf Grundlage von Berichten und Dokumenten erfolgte, die erst in den 80er- und 90er-Jahren erstellt wurden.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
Die Verpflichtung aus Artikel 3 EMRK, Kinder vor Gewalt zu schützen, umfasst nicht nur die Pflicht wirksame strafrechtliche Bestimmungen zu erlassen. Um den wirksamen Schutz sicherzustellen, sind auch wirksame Mechanismen zur Aufdeckung von Misshandlungen notwendig. Nur dann sind die Durchsetzung der Strafgesetze und die Verhütung solcher Misshandlungen möglich.