Beschwerde-Nr. 3564/11
EGMR, Urteil vom 28.05.2013, Beschwerde-Nr. 3564/11, Eremia gegen Moldawien
1. Sachverhalt
Lilia Eremia (L. E.) war mit dem Polizeibeamten A. verheiratet. Sie gab an, er habe sie, auch in Gegenwart ihrer beiden Töchter im Teenageralter, Doina Eremia (D. E.) und Mariana Eremia (M. E.), geschlagen. Sie reichte die Scheidung ein, woraufhin A. ihren Angaben zufolge immer gewalttätiger wurde. Nach einem Fausthieb von A. gegen ihren Kopf erstattete sie bei der Polizei Anzeige, und er erhielt vom Verwaltungsgericht eine bußgeldbewehrte Verwarnung. Aufgrund eines weiteren Übergriffs beantragte sie eine Schutzanordnung und die Anerkennung ihrer Töchter als Betroffene häuslicher Gewalt für das Strafverfahren. Zwei Wochen später, im Dezember 2010, erließ ein Gericht eine Schutzanordnung für L. E. und ihre Töchter, wonach A. die gemeinsame Wohnung verlassen musste und keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen durfte. L. E. beantragte auch die beschleunigte Bearbeitung ihrer Scheidung, erfuhr aber, dass der Richter abgelehnt hatte, von der gesetzlich vorgesehenen sechsmonatigen Wartefrist abzusehen. Ihre Beschwerde dagegen blieb erfolglos. Die Polizei suchte A. bis Mitte Januar 2011 insgesamt sechs Mal wegen Alkoholmissbrauchs, Beschimpfungen und Bruchs der Schutzanordnung auf.
Bei einer weiteren Anzeige versuchte die Polizei nach L. E.s Angaben, sie ohne ihre Anwältin zur Rücknahme des Strafantrags zu bewegen, da die Bildungs- und Karriereaussichten ihrer Töchter Schaden nehmen könnten, wenn ihr Vater seine Arbeit verliere und vorbestraft sei. Im Januar 2011 drang A. entgegen der Schutzanordnung in die Wohnung ein, würgte L. E. und drohte ihr, sie und ihre Tante zu töten, wenn sie die Anzeige nicht zurücknehme. Auch diesen Vorfall zeigte L. E. an, diesmal unter Vorlage eines Attests über ihre Verletzungen (vier Blutergüsse am Nacken und einer am Schlüsselbein). Wenige Tage später wurde sie zu einem Gespräch mit Sozialarbeitern eingeladen. Diese rieten ihr zur Versöhnung, da sie "weder die erste noch die letzte Frau sei, die von ihrem Mann geschlagen werde ". L. E. beschwerte sich beim Innenministerium.
Die Ermittlungen ergaben nach Angaben der Staatsanwaltschaft stichhaltige Beweise für häusliche Gewalt. Der Staatsanwalt setzte jedoch trotz des Geständnisses von A. die Ermittlungen für ein Jahr aus unter der Bedingung, dass A. keine weiteren Gewalttaten begehe. Er habe einen "minder schweren Verstoß" begangen, habe keine Vorgeschichte von Alkohol- oder Drogenmissbrauch und "stelle keine Gefahr für die Gesellschaft dar". Auf Beschwerde von L. E. und ihren Töchtern bestätigte ein Vorgesetzter diese Entscheidung, da die Familie so am besten geschützt werde, obwohl ein Gericht vier Tage zuvor die Schutzanordnung verlängert hatte, da die Familie noch immer Gefahren durch A. ausgesetzt sei. Im April 2011 wurde die Schutzanordnung teilweise widerrufen.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Argumente der Beschwerdeführerinnen und der moldawischen Regierung
Die Beschwerdeführerinnen L. E., D. E. und M. E. beriefen sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2011 auf Artikel 3 (Verbot der Folter) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Artikel 3 EMRK sei verletzt, da die moldawischen Behörden die häusliche Gewalt gegen die Beschwerdeführerinnen ignoriert hätten. Ferner hätten sie es versäumt, das rechtskräftige Urteil, das zu ihrem Schutz vor häuslicher Gewalt ergangen sei, umzusetzen und den Täter zu bestrafen. L. E. sei als "besonders verletzliche Person“ zu besonderem Schutz unter der EMRK berechtigt gewesen. Die Behörden hätten wegen der zahlreichen Überfälle und Anzeigen Kenntnis von A.s Gewalt gegen sie gehabt. Die Maßnahmen der Behörden seien allerdings ineffektiv gewesen, um sie vor der unmittelbaren Gefahr weiterer Gewalt zu schützen. Entgegen der gesetzlichen Vorschriften und trotz der eilbedürftigen Notlage sei die gerichtliche Schutzanordnung nicht binnen 24 Stunden, sondern erst nach Ablauf einer Woche ergangen. Ferner hätten die Behörden die Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt nicht zeitnah umgesetzt, auch als A. die Schutzanordnungen immer wieder gebrochen und neue Gewalttaten begangen habe. Stattdessen habe die Regierung ihr vorgehalten, selbst für den Rechtsbruch verantwortlich zu sein. Das Aussetzen der Ermittlungen gegen A. habe zudem letztlich dazu geführt, dass er trotz der Vielzahl seiner Angriffe auf L. E. nicht verurteilt worden sei.
Ferner hätte der Staat die beiden Töchter vor den Beschimpfungen ihres Vaters und davor schützen müssen, seine Schmähungen und körperliche Gewalt gegen die Mutter zu Hause hilflos mitansehen zu müssen.
Artikel 14 EMRK sei verletzt, weil die moldawischen Behörden die Gesetze zum Schutz gegen häusliche Gewalt wegen ihrer vorgefertigten Vorstellung über die Rolle der Frau in der Familie nicht angewendet hätten. Die Gewalt sei geschlechtsspezifisch gewesen und deshalb diskriminierend im Sinne der Vorschrift.
Die moldawische Regierung, gegen die die Beschwerde gerichtet war, wies diese zurück. Die Behörden hätten alle angemessenen Schutzmaßnahmen getroffen. Gerichte hätten Ermittlungen eingeleitet, eine Schutzanordnung erlassen und A. zu einer Geldbuße verurteilt. Das Innenministerium habe ihm eine formelle Warnung erteilt. Vor dem Erlass der Schutzanordnung habe kein Anlass für Maßnahmen von Amts wegen bestanden, da die Behörden bis dahin nur Kenntnis von zwei Vorfällen gehabt hätten, sodass keine Anhaltspunkte für ein unmittelbares Risiko vorgelegen hätten. A. sei registriert, zum Fernbleiben während 90 Tagen verpflichtet und vor einem Verstoß gegen die Schutzanordnung gewarnt worden; zudem sei er sechs Mal von Polizeibeamten besucht worden. L. E. habe ihm zweimal erlaubt, nach Hause zurückzukehren. Dies habe erneute Gewalt erst möglich gemacht; davor hätten die Behörden sie nicht schützen können. Die Staatsanwaltschaft habe die Ermittlungen nur wegen der glaubwürdigen Schuldgefühle und Entschuldigung von A. für ein Jahr ausgesetzt. Die Aussicht auf Bestrafung bei erneuten Verstößen binnen dieses Jahres sei der beste Weg gewesen, die Beschwerdeführerinnen vor weiterer Gewalt zu schützen.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter) fest, da die moldawischen Behörden es versäumt hätten, angemessene Maßnahmen zu treffen, um die Beschwerdeführerinnen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Ferner stellt er einen Verstoß gegen Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest, da der moldawische Staat die beiden Kinder nicht ausreichend davor geschützt habe, Traumata zu erleiden, weil sie die Gewalt des Vaters gegen ihre Mutter mit ansehen mussten. Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 3 EMRK sei verletzt, weil das moldawische Justizsystem keine ausreichende Handhabe bei häuslicher Gewalt gegen Frauen biete.
Aus der Sicht des EGMR bestand kein Anlass, zusätzlich Artikel 14 EMRK in Verbindung mit Artikel 8 EMRK zu prüfen.
Der EGMR betrachtet somit die körperliche und seelische Gewalt gegen L. E. unter Artikel 3 EMRK. Die Auswirkungen der beobachteten Gewalt gegen die Mutter auf die Kinder prüft er unter Artikel 8 EMRK.
3.1 Verletzung von Artikel 3 EMRK
Anwendungsbereich
Der EGMR betont, dass Artikel 3 EMRK nur anwendbar ist, wenn ein gewisser Schweregrad der Verletzungen erreicht ist. Dieser Grad sei relativ und an den Umständen des Einzelfalles zu messen. Wesentliche Aspekte bei der Beurteilung seien zum Beispiel Art, Dauer und Zusammenhang der Misshandlungen sowie ihre körperlichen und seelischen Auswirkungen und, in bestimmten Fällen, Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (ständige Rechtsprechung, siehe beispielsweise "Kudła gegen Polen", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 30210/96). Auch wenn ein Staat nicht direkt für die Handlungen Privater verantwortlich gemacht werden könne, hafte er dennoch, wenn er seine Verpflichtungen aus Artikel 1 EMRK nicht erfülle, nämlich angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Privatpersonen gegen Misshandlungen – auch durch Private – zu schützen ("A. gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 25599/94; "Opuz gegen die Türkei"). Dies schließe den effektiven Schutz identifizierter Personen gegen Straftaten Dritter ebenso ein wie angemessene Schritte, um Misshandlungen vorzubeugen, von denen die Behörden wussten oder hätten wissen müssen (ständige Rechtsprechung seit "Osman gegen des Vereinigte Königreich ", Beschwerde-Nr. 23452/94). Es sei zwar nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, die Einschätzung der nationalen Behörden hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Erfüllung der Verpflichtung unter Artikel 3 EMRK zu ersetzen ("Bevacqua und S. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 71127/01). Jedoch müsse der EGMR sicherstellen, dass der Staat seine Schutzverpflichtungen angemessen erfüllt hat ("Nikolova und Velichkova gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 7888/03).
Des Weiteren verpflichte Artikel 3 EMRK die Behörden zu effektiven Ermittlungen auch bei Misshandlungen durch Privatpersonen (siehe unter anderem "M. C. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 39272/98). Effektiv seien Ermittlungen, die geeignet sind, grundsätzlich zur Ermittlung des Sachverhalts sowie zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu führen. Dabei achte der EGMR unter den Artikeln 2 und 3 EMRK besonders auf Verzögerungen bei der Eröffnung von Ermittlungen oder Befragungen bzw. die Länge der Vorermittlungen ("Denis Vasilyev gegen Russland", Beschwerde-Nr. 32704/04; "Stoica gegen Rumänien", Beschwerde-Nr. 42722/02).
Der EGMR stellt zunächst fest, dass der Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK eröffnet ist. Auch wenn L. E. im November 2010 kein Attest vorgelegt habe, habe ein Gericht im Dezember 2010 entschieden, dass der Vorfall ernsthaft genug für eine Schutzanordnung gewesen sei. Im Januar 2011 habe sie ein medizinisches Attest vorgelegt. Ferner sei auch die Angst vor weiteren Vorfällen schwer genug, um Leid und Sorge hervorzurufen, sodass von einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Artikel 3 EMRK auszugehen sei.
Kein Verstoß gegen die Staatenverpflichtung zur Rechtsetzung
Sodann stellt der EGMR fest, dass Moldawien seiner Rechtsetzungspflicht genügt habe. Das moldawische Recht sehe besondere strafrechtliche Sanktionen für Gewalt gegen Familienmitglieder, Schutzmaßnahmen für die Opfer und Sanktionen bei Verstößen dagegen vor.
Verstoß gegen die Staatenverpflichtung zur Rechtsanwendung
Der EGMR stellt aber einen Verstoß fest gegen die Rechtsanwendungspflicht aufgrund der Art und Weise, wie die Behörden den Fall behandelt haben. Trotz ihrer Kenntnis von der Gewalt, vor allem hinsichtlich der unmittelbaren Gefahr weiterer Taten, hätten es die Behörden versäumt, angemessene Schutzmaßnahmen zu treffen.
Kenntnis der Behörden von A.s gewaltsamen Verhalten
Spätestens bei der erneuten Anzeige von L. E. im Januar 2011 hätten die Behörden genügend Anhaltspunkte hinsichtlich des gewalttätigen Verhaltens von A. und – aufgrund seiner offenkundigen Missachtung der Schutzanordnung – der Gefahr weiterer Taten gegen L. E. gehabt. Dies entnimmt der EGMR neben den zahlreichen Anzeigen der Frau der Schutzanordnung von Dezember 2010, die A. zwei Mal verletzt habe. Für ein Einverständnis von L. E. sieht der EGMR keine Anhaltspunkte. Dagegen spreche, dass sie sofort Beschwerde bei den Behörden erhoben habe. Dadurch hätten die Behörden nicht nur auf ein fehlendes Einverständnis schließen, sondern das gesteigerte Risiko weiterer Gewalt erkennen müssen, da A. – ein Polizeibeamter – den Gerichtsbeschluss eindeutig missachtet hatte. Ferner habe er im Januar 2011 mit dem Staatsanwalt über die Strafanträge der Beschwerdeführerinnen gesprochen und deshalb gewusst, dass möglicherweise demnächst Ermittlungen gegen ihn aufgenommen würden. Dennoch sei er nur zwei Tage später gewaltsam und unter Drohungen in das Haus seiner Familie eingedrungen.
Abschließend weist der EGMR darauf hin (Rz. 61), dass L. E. als Frau eines Polizeibeamten besonders verletzlich gewesen sei. Sie habe sich nicht gegen ihren Mann verteidigen können, der darauf trainiert gewesen sei, jeden Widerstand zu überwinden. Jede Hilfe von außen sei ausgeschlossen gewesen, da sich die Gewalt in der privaten Wohnung abgespielt habe. Damit sei die Gefahr für das körperliche wie seelische Wohlbefinden von L. E. unmittelbar und schwerwiegend genug gewesen, um schnelles Handeln der Behörden zu erfordern.
Versäumnis, angemessene Schutzmaßnahmen zu ergreifen
Stattdessen hätten die Behörden es versäumt, angemessene Schutzmaßnahmen zu treffen. Zwar seien sie nicht untätig geblieben, aber keine ihrer Maßnahmen sei effektiv gewesen. Vor allem hätten sie zwei Verstöße gegen die Schutzanordnung ohne Sanktionen hingenommen, die Ermittlungen unterbrochen und A. eine Perspektive vollständiger Straflosigkeit eröffnet. Der EGMR betont, dass ihm vollständig unklar sei, wie die Staatsanwaltschaft feststellen konnte, dass A. "keine Gefahr für die Gesellschaft" darstelle, obwohl er L. E. wiederholt angegriffen und die gerichtliche Schutzanordnung missachtet hatte. Die Aussetzung der Ermittlungen hätte praktisch zur Straflosigkeit geführt, aber nicht zu einem besseren Schutz seiner Familie.
3.2 Verletzung von Artikel 8 EMRK (Rz. 72 ff.)
Der EGMR bestätigt zunächst seine Rechtsprechung zur verfahrensrechtlichen Staatenverpflichtung unter Artikel 8 EMRK aus "X und Y gegen die Niederlande" (Beschwerde-Nr. 8978/80). Danach erfasse der Begriff des Privatlebens unter Artikel 8 EMRK die körperliche und seelische Unversehrtheit einer Person. Der effektive Schutz des Privat- und Familienlebens könne auch erfordern, dass der Staat Maßnahmen ergreift, die die Verhältnisse von Privatpersonen untereinander betreffen. Demnach sei er verpflichtet, einen angemessenen gesetzlichen Rahmen zum Schutz gegen Gewaltakte Privater aufrecht zu erhalten und in der Praxis anzuwenden. Kinder und andere "verletzliche Personen" hätten Anspruch auf besonderen Schutz ("X und Y gegen die Niederlande"; "M. C. gegen Bulgarien"). Ferner betont der EGMR erneut unter Verweis auf internationale Verträge die besondere Verletzlichkeit von Betroffenen häuslicher Gewalt und die Notwendigkeit aktiven Schutzes durch den Staat (" Bevacqua und S. gegen Bulgarien").
Der EGMR stellt eine Verletzung hinsichtlich der beiden beschwerdeführenden Töchter fest. Das Gericht habe bereits bei Erlass der Schutzanordnung befunden, dass ihr seelisches Wohlbefinden dadurch negativ beeinflusst werde, dass sie die Gewalt ihres Vaters gegen ihre Mutter mit ansehen mussten. Deswegen habe das Gericht die Schutzanordnung auch auf sie erstreckt. Da der Eingriff in der Verletzung des Rechts der Mutter aus Artikel 3 bestehe, sei auch eine Rechtfertigung unter Artikel 8 EMRK ausgeschlossen. Die Behörden hätten die Vorfälle gekannt und nicht alle angemessenen Maßnahmen getroffen. Ende Dezember seien sie informiert gewesen über A.s Verstöße gegen die Schutzanordnung, die Drohungen und Schmähungen gegen L. E. und die Auswirkungen auf die Töchter. Die Beschwerdeführerinnen hatten auch die Anerkennung der Töchter, die selbst Beschimpfungen ertragen mussten, als Opfer häuslicher Gewalt beantragt. Dennoch hätten die Behörden sich nicht bemüht, weitere Vorfälle zu verhindern, sondern A. praktisch von jeglicher strafrechtlicher Haftung freigestellt und damit nicht alles Erforderliche getan.
3.3 Häusliche Gewalt als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts unter Artikel 14 EMRK (Rz. 85 ff.)
Der Gerichtshof stellt aufgrund der besonderen Einzelfallumstände eine Verletzung der Rechte von L. E. fest. Der EGMR bestätigt seine Rechtsprechung aus "Opuz gegen die Türkei", wonach das staatliche Versäumnis, Frauen gegen häusliche Gewalt zu schützen, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletze. Trotz der wiederholten Gewaltvorfälle und der Kenntnis der Behörden hatten die Gerichte sich geweigert, die Scheidung zu beschleunigen; die Polizei hat die Frau mutmaßlich unter Druck gesetzt, den Strafantrag zurückzunehmen; soziale Einrichtungen hätten es bis Mitte März 2011 versäumt, die Vollstreckung der Schutzanordnung zu betreiben, und sogar Versöhnung vorgeschlagen, da L. E. "weder die erste noch die letzte Frau sei, die von ihrem Ehemann geschlagen werde". Schließlich sei A. durch den Ermittlungsaufschub trotz seines Geständnisses faktisch freigesprochen worden.
Der EGMR schließt aus der Gesamtschau dieser Faktoren, dass es sich nicht um einen Einzelfall oder eine bloße Verzögerung handelt. Vielmehr liege eine wiederholte stillschweigende Duldung nahe, die eine diskriminierende Haltung gegenüber L. E. als Frau widerspiegele. Hier bezieht sich der EGMR auch auf die Berichte der UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen über Moldawien, wonach die Behörden die Ernsthaftigkeit und das Ausmaß der Problematik häuslicher Gewalt und der diskriminierenden Auswirkungen auf Frauen nicht voll erfasst hätten.
3.4 Entschädigung
Der EGMR sprach den Beschwerdeführerinnen aufgrund der Schwere der Verletzungen gemeinsam eine Entschädigung in Höhe von 15.000 Euro zu.
Entscheidung im Volltext: