Beschwerde-Nr. 25965/04
EGMR, Urteil vom 07.01.2010, Beschwerde-Nr. 25965/04, Rantsev gegen Zypern und Russland
1. Sachverhalt
Frau Rantseva (R.), eine 20-jährige Russin, reiste 2001 mit einem Touristenvisum nach Zypern ein. Sie erhielt eine Arbeitserlaubnis als Artistin in einem Cabaret. Ihre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis war damit an einen Arbeitgeber gebunden. Der Arbeitgeber musste eine Kaution für mögliche Kosten des Staates hinterlegen, die bei einem Verstoß von R. gegen Visaauflagen entstehen könnten. Bekannt war in Zypern zu diesem Zeitpunkt, dass dieser Einreiseweg und die legale Fassade des Artistenvisums häufig zur illegalen Prostitution, aber auch als Deckmantel für Menschenhandel genutzt wurden.
Nach drei Tagen verschwand R. aus dem Cabaret. Zehn Tage später griff ihr Arbeitgeber sie in einer Diskothek auf und brachte sie zur Polizei. Er übergab den Behörden ihren Pass und weitere Dokumente und verlangte ihre Ausweisung, damit er ihren Arbeitsplatz mit einer anderen Migrantin besetzen könne. Da eine aufenthaltsrechtliche Illegalität noch nicht vorlag, forderte die Polizei den Arbeitgeber auf, R. wieder mitzunehmen. Dieser brachte sie daraufhin in einem Appartement unter. Am folgenden Tag wurde sie tot auf dem Gehweg davor aufgefunden.
2. Verlauf des Verfahrens in Zypern
Während des Ermittlungsverfahrens in Zypern stellte die Polizei auf Grundlage einer Autopsie fest, dass die Frau infolge eines Unfalls gestorben und keine dritte Person strafrechtlich für ihren Tod verantwortlich ist. Das Verfahren wurde daraufhin eingestellt.
Nach Überführung des Leichnams nach Russland wurde dort festgestellt, dass R. bereits vor ihrem Tod diverse schwere Verletzungen erlitten hatte. Der hinterbliebene Vater versuchte über Jahre erfolglos eine Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens in Zypern zu erreichen.
2.1 Unabhängige Berichte
Parallel dazu verfassten die Ombudsfrau Zyperns und der Menschenrechtskommissar des Europarates unabhängige Berichte über Menschenhandel in Zypern. Diese Berichte wurden in dem anschließenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Darstellung der Situation in Zypern herangezogen.
Anlässlich des vorliegenden Falls und ähnlicher Fälle hatte sich die Ombudsfrau Zyperns zu einer Untersuchung der bereits existierenden Berichte über Menschenhandel entschieden. 2003 führte sie in einem Bericht aus, dass es eine seit langem bekannte Praxis sei, dass Frauen auf der Grundlage von Artistenvisa ins Land migrieren und sich dort prostituieren. Sie werden bewacht, ihre Papiere werden ihnen abgenommen und sie können sich nicht frei bewegen. Sind die Frauen mit der Tätigkeit oder den Arbeitsbedingungen nicht einverstanden, werden sie bei der Ausländerbehörde angezeigt. Die Aufenthaltserlaubnis erlischt und sie werden ausgewiesen. Staatliche Maßnahmen, die auf der Grundlage von Beschwerden ergriffen wurden, sind ungenügend. Zwar wird den Betroffenen ein neuer Arbeitgeber zugewiesen, die rechtlichen wie tatsächlichen Bedingungen bleiben aber dieselben. Der rechtliche Rahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel wird von der Ombudsfrau generell als ausreichend bewertet, die Umsetzung der Normen sowie der Wissensstand der Behörden aber als unzureichend gerügt.
Der Menschenrechtskommissar des Europarates mahnte in seinen Berichten 2004 und 2008 diese Zustände erneut an. Er äußerte sich unter anderem konkret zu der Visa-Vergabepraxis. Erfahrungen aus anderen EU-Ländern hätten gezeigt, dass es hilfreich sein könne, wenn die Frauen selbst ihr Visum beantragen müssten und somit beraten werden könnten. 2008 stellte er erneut fest, dass es die alte Praxis der Visavergabe noch immer gibt. Der Bericht schlussfolgert: die gängige Praxis, den Frauen bei ihrer Einreise eine Informationsbroschüre auszuhändigen, ist wenig effektiv, auch wenn die Broschüre in Gegenwart von Behördenvertretern gelesen und unterschrieben werden muss.
3. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Der Vater von R. legte im Mai 2004 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Individualbeschwerde gegen Zypern und Russland ein. Dieser zufolge haben die zypriotischen Behörden die Artikel 2, 3, 4, 5 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt, weil sie seine Tochter nicht geschützt und die Ursachen für ihren Tod ungenügend ermittelt hatten. Den russischen Behörden warf er vor, weder zum Tod ermittelt noch Schutzmaßnahmen ergriffen zu haben.
Zypern räumte die vorgeworfenen Rechtsverletzungen im Wesentlichen ein und bot im April 2009 eine Entschädigungszahlung in Höhe von 37.300 Euro an. Den damit verbundenen Antrag, das Verfahren zu beenden, lehnte das Gericht ab, weil es seine Rechtsprechung zu Art. 4 EMRK weiterentwickeln wollte und weil die Vorwürfe über die Zustände in Zypern schwer wogen. Der Fall wurde trotz hoher Auslastung des Gerichts vorrangig behandelt.
4. Feststellungen des Gerichts zum Anwendungsbereich von Artikel 4 EMRK (Verbot der Zwangsarbeit)
Das Gericht hat erörtert, inwieweit der Fall in den Anwendungsbereich von Artikel 4 EMRK fällt. Der Wortlaut von Artikel 4 bezieht sich explizit auf Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit. Der Begriff Menschenhandel ist im Text der Menschenrechtskonvention nicht enthalten.
Im Fall Rantsev hat der EGMR den Anwendungsbereich auf den Begriff Menschenhandel in der Bedeutung von Artikel 3 des UN-"Palermo-Protokolls" und Artikel 4a der Europaratskonvention gegen Menschenhandel weiterentwickelt. In der Herleitung nimmt das Gericht Bezug auf Entscheidungen des Ad-Hoc-Tribunals zu Jugoslawien. Dieses ging davon aus, dass modernen Formen der Sklaverei nicht mehr das Eigentumskonstrukt zugrunde liegt (Person A gehört rechtlich Person B), aber die Handlungen, die damit typischerweise zusammenhängen, dieselben Auswirkungen haben. Kontrolle, Zwang, Gewalt und Bedrohung führen zu einer faktischen Verfügungsgewalt über eine andere Person, die in ihren Auswirkungen einer rechtlichen Verfügungsgewalt gleich stehen.
4.1 Feststellungen zu den positiven Verpflichtungen aus Artikel 4 EMRK
Das Gericht steckt die positiven Verpflichtungen der Staaten, die sich aus Artikel 4 ergeben, im Rahmen der Bestimmungen des Palermo-Protokolls und der Europaratskonvention gegen Menschenhandel ab. Beide gehen von der Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes bei der Bekämpfung von Menschenhandel aus. Hierüber beziehen sich die positiven Verpflichtungen der Staaten in Bezug auf Menschenhandel auf die Bereiche Prävention, Schutz und Strafverfolgung.
Innerhalb dieser drei Bereiche haben die Staaten wiederum Verpflichtungen auf der Ebene der Gesetzgebung und auf der Ebene der Rechtsumsetzung. Das Gericht sieht Pflichtverletzungen von Zypern auf beiden Ebenen:
a) Gesetzgebung:
Im Bereich des Strafrechts erfüllt Zypern die Verpflichtungen nach Auffassung des Gerichts.
Im Bereich des Ausländerrechts jedoch stellt der EGMR eine Pflichtverletzung fest, da die rechtliche Ausgestaltung der Visa-Erteilung Menschenhandel begünstigt. Dadurch, dass der Arbeitgeber das Visum beantragt und eine Kaution für mögliche Visa-Verstöße zahlen muss, wird eine Abhängigkeit und damit eine Grundlage für Ausbeutung geschaffen.
b) Rechtsumsetzung:
Der Staat ist verpflichtet, die strafrechtlichen Gebote oder Verbote im Rahmen von Artikel 4 auch umzusetzen. Hierfür hat das Gericht die Argumentation aus seiner Rechtsprechung zu Artikel 2 und 3 EMRK übertragen. Das bedeutet: Wenn der Staat Kenntnis hat von Umständen, die begründeten Verdacht ergeben, dass eine Person einem Risiko ausgesetzt ist, muss er zum Schutz dieser Person tätig werden. Für die Strafverfolgung bedeutet das, der Staat ist verpflichtet, unverzüglich, effektiv, unabhängig von einer Anzeige des Opfers oder der Opfer zu ermitteln. Eine erhöhte Dringlichkeit zu ermitteln besteht in einer Gefährdungslage.
An diesem Punkt hat das Gericht eine weitere Pflichtverletzung Zyperns festgestellt.
Nach Auffassung des EGMR wussten die Behörden, dass es Menschenhandel im Kontext von Artistenvisa gibt. Dieses Wissen in Verbindung mit den konkreten Umständen, unter denen R. zur Polizei gebracht wurde, gab genug Anhaltspunkte für einen begründeten Verdacht, dass sie Opfer von Menschenhandel oder zumindest gefährdet war.
Die konkrete Pflichtverletzung sieht der EGMR darin, dass R. nicht entsprechend von der Polizei befragt und dass sie an den Arbeitgeber übergeben wurde.
Auch Russland hat gegen Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Strafbar ist dem Palermo-Protokoll und der Europaratskonvention gegen Menschenhandel zufolge das Anwerben von Opfern von Menschenhandel. Daher hätten die Behörden zumindest ermitteln müssen, ob R. vor Ort angeworben worden war.
Aufgrund dieser Pflichtverletzungen wurde Zypern zur Zahlung von 40.000 Euro Schadenersatz und 3.150 Euro zum Ersatz der Kosten und Auslagen für das Verfahren verurteilt. Russland wurde zur Zahlung von 2.000 Euro Schadenersatz verurteilt.
Entscheidung im Volltext: