Aktuelles

Wie Sicherheitsgesetze am Maßstab von Grund- und Menschenrechten prüfen?

© iStock/MediaProduction

· Meldung

Seit dem 11. September 2001 wurden die Befugnisse der Sicherheitsbehörden beständig erweitert. Dabei war in Deutschland eine wissenschaftliche Evaluierung, die Auswirkungen auf Grund- und Menschenrechte in den Blick nimmt, nur selten gesetzlich vorgesehen. Um Perspektiven und Herausforderungen einer an Grund- und Menschenrechten orientierten Überprüfung von Sicherheitsgesetzen zu diskutieren, hatte das Deutsche Institut für Menschenrechte am 17. September 2021 Fachleute aus Politik, Behörden, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen zum Austausch eingeladen. Zum Auftakt führte Dieter Weingärtner, Senior Fellow am Institut, anknüpfend an die im August veröffentlichte Analyse zur Evaluierung von Sicherheitsgesetzen in das Thema ein.

Herausforderungen bei der Evaluierung von Sicherheitsgesetzen

Marion Albers, Professorin für Öffentliches Recht, Informations- und Kommunikationsrecht, Gesundheitsrecht und Rechtstheorie an der Universität Hamburg, vertiefte die Ausführungen in ihrem anschließenden Vortrag. Dabei betonte sie, dass eine Überprüfung von Sicherheitsgesetzen rechtlich unverzichtbar sei. Ob und wie Evaluierungen tatsächlich durchgeführt werden, folge aber keiner Systematik. Albers empfahl, schon bei der Festlegung des Gegenstands und der Ziele einer Evaluierung darauf zu achten, dass der Auftrag nicht zu pauschal formuliert werde, sondern sich auf virulente Punkte beschränke. Zu vermeiden sei auch, dass rechtswissenschaftliche Analysen den Schwerpunkt von Evaluationen ausmachten, sich der empirische Teil hingegen darin erschöpfe, die Anwendung neuer Befugnisse quantitativ zu erfassen. Stärkeres Augenmerk, so Albers, sollte auf qualitative Untersuchungen gelegt werden. Für die Durchführung sei es sinnvoll, wenn die Verantwortung bei der Regierung bzw. Ministerien liege, da nur so ein umfassender Zugang zu notwendigen Daten bei den Sicherheitsbehörden sichergestellt werden könne. Aufgrund der Perspektive und Interessen der Behörden stünden grund- und menschenrechtliche Fragen aber nicht in deren Fokus. Wichtig sei es daher, externen Sachverstand einzubinden. Abschließend bedürften die Ergebnisse jedoch einer politischen Bewertung, die letztlich das Parlament vorzunehmen habe.

Überwachung in ihrer Gesamtheit bilanzieren

Der zweite Block beschäftigte sich mit der „Überwachungsgesamtrechnung“. Den Begriff prägte der Jurist Alexander Roßnagel in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Gesetzgeber die staatliche Überwachung in ihrer Gesamtheit auf ein Maß zu beschränken hat, das eine Totalerfassung ausschließt. Über Reichweite und Methodik einer Bilanzierung der staatlichen Überwachung bestehen erhebliche Unklarheiten. In drei Vorträgen wurden Ansätze zur Operationalisierung vorgestellt.

Mark A. Zöller, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und das Recht der Digitalisierung an der Ludwig-Maximilian-Universität München, konstatierte, dass bei der Sicherheitsgesetzgebung Auswirkungen von und Alternativen zu neuen Befugnissen regelmäßig nur unzureichend betrachtet würden. Dadurch sinke die Qualität der Gesetzgebung erheblich. Eine Überwachungsgesamtrechnung könne dem zwar nicht mit einer allumfassende Zauberformel entgegenwirken, es sollten jedoch Mindeststandards herausgearbeitet werden, die zu berücksichtigen seien. Dieses Ziel verfolgt Zöller in einem neuen Forschungsprojekt. Dabei geht es zunächst darum, die bestehenden Überwachungsbefugnisse in einem Atlas des Sicherheitsrechts zu erfassen und über weitere Schritte schließlich „best practice“-Regelungen zu entwickeln.

Angelika Adensamer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Graz, stellte das „Handbuch Überwachung“ vor, dass sie 2020 für die österreichische Datenschutzorganisation epicenter.works herausgegeben hat. Das Handbuch, gedacht als Blaupause für die Regierung zur Überprüfung der österreichischen Sicherheitsgesetzgebung, stelle nicht nur einzelne Befugnisse dar, sondern widme auch dem gesellschaftlichen Rahmen sowie den Rechten der Betroffenen eigenständige Kapitel. Für die Evaluation bestehender und künftiger Gesetze sei eine Checkliste erstellt worden. Zentral für die Beurteilung sei, ob die Wirksamkeit einer Befugnis nachgewiesen und mildere Mittel auch jenseits sicherheitsbehördlicher Befugnisse als Alternative in Betracht gezogen würden. Dabei gelte es auch zu beachten, dass der Einsatz neuer Technologien die Eingriffsintensität von Überwachungsmaßnahmen steigere, während das Wachstum der Datenbestände durch steigende Zahlen falscher Treffer die Effektivität verringern könne.

Die Konzeption eines „Überwachungsbarometers“ ist das Ziel eines Projekts, das Ralf Poscher, Direktor der Abteilung Öffentliches Recht am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung durchführt. Die Idee bestehe laut Poscher darin, nach dem Vorbild der jährlich veröffentlichten Zahlen zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) entsprechende Angaben auch zu anderen Überwachungsinstrumenten zu erhalten und aufzubereiten. An den Beispielen TKÜ und dem Zugriff auf die auf Vorrat gespeicherten Finanzdaten erläuterte Poscher, wie das Barometer entwickelt werden könnte: Zu klären sei, welche Behörden nach welchen Rechtsgrundlagen unter welchen Voraussetzungen auf welche Daten zugreife. Aus der Häufigkeit des Zugriffs und einem jeweils zu entwickelnden Intensitätsfaktor ließen sich für jede Maßnahme Indizes ermitteln, die zu einer Gesamtbetrachtung aggregiert werden könnten.

Die Evaluierung der EU-Terrorismusbekämpfungsrichtlinie

Im dritten Block berichtete zunächst Martin Schieffer, Leiter des Referats Terrorismusbekämpfung der Generaldirektion Migration und Inneres bei der Europäischen Kommission, von Erfahrungen auf europäischer Ebene insbesondere mit Blick auf die Evaluierung der EU-Terrorismusbekämpfungsrichtlinie. Deren Ergebnisse sollen im Herbst veröffentlicht werden. Ein Vorteil für die Evaluierung sei gewesen, dass bereits Artikel 29 der Richtlinie konkrete Vorgaben gemacht habe. Hilfreich, sagte Schieffer, waren etablierte Standards durch allgemeine „Better Regulation Guidelines“ der Kommission und entsprechende Strukturen. Darauf aufbauend wurden sowohl Agenturen der EU, Behörden der Mitgliedstaaten sowie Nichtregierungsorganisationen konsultiert als auch eine eigene Studie in Auftrag gegeben. Allgemein zeige sich, dass eine Evaluierung umso besser ausfalle, je stärker die anzuwendenden Kriterien bereits bei der Gesetzgebung berücksichtigt benannt werden.

Gerald Roßkogler, Policy Analyst bei der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), erläuterte die Rolle der FRA bei der Evaluierung der Terrorismusbekämpfungsrichtlinie. Hierfür habe die FRA 25 Länderstudien bei ihrem Forschungsnetzwerk FRANET in Auftrag gegeben und anschließend qualitative Interviews mit über 100 Expert_innen in sieben Ländern durchgeführt. Trotz erheblicher Unterschiede, die sich zwischen den Mitgliedsstaaten gezeigt hätten, habe der Fokus nicht auf der Bewertung einzelner nationaler Praktiken gelegen. Vielmehr sei es um eine vergleichende Analyse gegangen, die übergreifende Problemfelder identifizieren sollte. Die Forschungsergebnisse fließen nicht nur in den Evaluierungsbericht der Kommission ein, sondern werden vor Jahresende auch in einem eigenständigen Bericht der FRA veröffentlicht.

In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass es zwar Aufgabe von Gerichten sei, rechtsstaatliche Defizite von Befugnissen – etwa mit Blick auf Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit – letztverbindlich beurteilen. Doch auch Legislative und Exekutive müssten diese Fragen stets eigenständig prüfen. Die Diskussionsteilnehmer_innen waren sich einig, dass fundierte Evaluationen und eine Überwachungsgesamtrechnung wichtige Bausteine dafür seien. Dabei müssten jedoch thematische Prioritäten gesetzt werden und Betroffene neben den Sicherheitsbehörden mehr Gehör finden. Es gelte, die methodischen Ansätze weiterzuentwickeln und Verfahren unter Einbeziehung unabhängiger Expertise zu institutionalisieren. Hierfür wurde unter anderem vorgeschlagen, bereits im Haushalt ein Budget für die Überprüfung von Sicherheitsgesetzen vorzusehen und Standards in einem allgemeinen Evaluationsgesetz festzuschreiben.

(P. Madjarov)

Mehr zu diesem Thema

Zum Seitenanfang springen